Laut medizinischer Leitlinie ist es Patient:innen erlaubt, bis zu sechs Stunden vor einer Operation leichte Kost und bis zu zwei Stunden vor einer OP klare Flüssigkeiten zu sich zu nehmen. Die Nüchternheitsgrenze für Essen einzuhalten ist sehr wichtig. Leider trinken in vielen Kliniken Patient:innen an ihrem OP-Tag ab Mitternacht auch nicht mehr, ganz gleich wann der genaue Operationstermin ist. Ein Grund hierfür ist, dass viele Patient:innen durch den Volksmund „zu wissen glauben“, dass eine lange Nüchternheit auch für Flüssigkeiten medizinisch besser sei. Darüber hinaus dürfen in vielen Kliniken Patien:innen ab den frühen Morgenstunden nicht mehr trinken, weil aufgrund der bestehenden Leitlinie sonst keine Flexibilität im OP-Ablauf möglich erscheint. In der internationalen anästhesiologischen Fachliteratur wird dokumentiert, dass Patient:innen vor einer Operation durchschnittlich sechs bis zehn Stunden nüchtern für Flüssigkeiten bleiben.
Um das zu ändern, haben Dr. Eike Nickel und Dr. Anne Rüggeberg, Chefarzt und Fachärztin der Klinik für Anästhesiologie und Schmerztherapie am Helios Klinikum Emil von Behring, verschiedenfarbige Nüchternheitskarten eingeführt. Mit den Farben grün, gelb und rot sehen Patient:innen und Pflegekräfte direkt, wie die Karenzzeiten für Essen und Flüssigkeiten sind:
- Grüne Karten erhalten die meisten Patient:innen. Sie dürfen und sollen bis zum Abruf in den OP alle klaren Flüssigkeiten sowie Tee und Kaffee, auf Wunsch auch mit Zucker, Honig oder Milch trinken.
- Gelbe Karten sind für einige Patient:innen bestimmt, bspw. mit bestimmten Vorerkrankungen oder aufgrund einer besonderen Operation. Auf diesen Karten werden alle Zeiten einzeln und individuell festgelegt.
- Rote Karten werden den wenigsten Patient:innen zugewiesen. Das betrifft in der Regel Notfallpatienten, bspw. mit einem Darmverschluss. Sie dürfen ab sofort nichts mehr essen und trinken.
Animationsfilm und Mehrsprachigkeit erhöhen das Verständnis
Damit sich das neue Nüchternheitskonzept nachhaltig bei Patient:innen vor Operationen verankert, werden diese zum einen im Rahmen des Narkosevorgespräches individuell aufgeklärt. Darüber hinaus haben sie die Möglichkeit sich über eine begleitende Animation unter www.helios-gesundheit.de/berlin-behring/nuechternheit zu informieren. Am Vorabend des Operationstages wird zu guter Letzt die ausgewählte Nüchternheitskarte an den Aufrichter des Patientenbettes gehängt. Auf der Rückseite der Karte stehen alle relevanten Informationen zudem in englischer, türkischer, russischer und arabischer Sprache.
Chefarzt Dr. Eike Nickel erklärt: „Die Vorteile unseres Nüchternheitskonzepts sind vielfältig: Mit der Möglichkeit einer Flüssigkeitsaufnahme kann nicht nur unkompliziert Unwohlsein, Hunger- und Durstgefühl reduziert werden, sondern vor allem auch der Stress für die Patientinnen und Patienten. Außerdem kann beispielsweise der Blutdruck stabilisiert oder die Anlage von venösen Zugängen erleichtert werden. Zusätzlich werden postoperativ Übelkeit, Erbrechen und Schmerzen reduziert.“
Dr. Anne Rüggeberg, Konzeptentwicklerin und Projektleiterin am Klinikum, ergänzt: „Klare Flüssigkeit verlässt den Magen sehr schnell. Studien belegen, dass zehn Minuten nach dem Trinken von 500 Milliliter Wasser die Hälfte des Wassers den Magen gesunder Probanden wieder verlassen hat. Nach 30 Minuten ist der Magen leer. Wasser und klare Flüssigkeiten bis kurz vor der Operation zu erlauben, erhöht die Sicherheit für Patientinnen und Patienten und hilft postoperative Komplikationen zu reduzieren.“
Die ersten Zahlen bestätigen das Konzept
Seit Einführung des Nüchternheitskonzepts lassen sich erste positive Veränderungen feststellen: So hat Dr. Rüggeberg gemeinsam mit Kolleg:innen Anfang 2021, also vor der Einführung, die Nüchternheitszeiten von 270 Patient:innen vor geplanten Operationen gemessen. Das Ergebnis: 84 Prozent der Patient:innen hatten seit mehr als 6 Stunden nicht mehr getrunken. Und das, obwohl trinken bis Abruf in den OP bereits seit drei Jahren im Klinikum erlaubt ist.
Vier Wochen nach Einführung der Nüchternheitskarten konnte der Anteil der Patient:innen, die unter drei Stunden nüchtern für klare Flüssigkeiten blieb, bereits um das Vierfache gesteigert werden. Zweidrittel der Patient:innen hatten in den letzten sechs Stunden vor Narkoseeinleitung getrunken.