Menü
Schließen

Selbstdiagnose dank Social Media – ein gefährlicher Trend

TikTok ist längst keine Plattform mehr, auf der nur lustige Tanzvideos geteilt werden. Immer häufiger finden sich Inhalte wieder, die psychische Erkrankungen wie Anorexie, Depression oder ADHS thematisieren. Beispielsweise mit Aussagen wie Du verlierst schnell das Interesse an Hobbys? Vergisst, wo du deine Kopfhörer hingelegt hast? Kommst oft zu spät? Nutzer:innen, die diese Fragen mit einem Ja beantworten, erhalten dann die (Selbst-)Diagnose ADHS. Ist das vernünftig?

16. Mai 2023
Young millennial female using social network application on mobile phone for communication. Caucasian hipster girl holding smartphone in silicone case. Teenager browsing online with internet data,Young millennial female using social network application on mobi

Seriöse Diagnose auf Social Media?

Eine Selbstdiagnose über Soziale Medien ist fraglich, denn während solche Beiträge so manchen vielleicht dazu bringen, das eigene Verhalten zu hinterfragen und sich professionelle Hilfe zu suchen, führt es bei anderen jedoch dazu, dass sie vorschnell der „Diagnose“ glauben – ohne je eine Expertin oder einen Experten aufgesucht zu haben. Dr. Martin Jung ist Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie im Helios Klinikum Schleswig und Sprecher der Arbeitsgruppe Kinder- und Jugendpsychiatrie bei Helios. Er erklärt, was die Gefahren hinter Selbstdiagnosen sind und an wen sich Betroffene wenden können.

Ist es sinnvoll, auf Social Media über psychische Störungen zu sprechen?

„Es kommt darauf an, wie und von wem über die Störung gesprochen wird. Es gibt durchaus sehr problematische Veröffentlichungen in den sozialen Medien zu Anorexie und selbstverletzendem Verhalten“, so Dr. Martin Jung.

Diesen eher unseriösen Quellen stehen aber auch sehr gute Veröffentlichungen durch ausgewiesene Expertinnen und Experten gegenüber. Sie klären richtig auf und können so zu einer sinnvollen Behandlung beitragen. Als Konsument:in ist es hier wichtig, die seriösen Inhalte zu identifizieren. „Ich rate dazu, nur offiziellen und fachlich fundierten Quellen zu vertrauen. Allerdings setzt das eine gewisse Medienkompetenz voraus“, sagt Dr. Martin Jung.

Eltern, deren Kind viel auf Social Media unterwegs ist, sollten regelmäßig mit ihrem Nachwuchs sprechen und die Medienkompetenz stärken. Wer sich als Elternteil dazu selbst nicht in der Lage fühlt, kann sich beraten lassen, um zu lernen, wie sie am besten mit ihrem Kind über soziale Medien, Bildschirmzeiten und dem richtigen Umgang mit dem dort Gezeigten sprechen.

Helios Klinikum Schleswig - Kinder- und Jugendpsychiatrie

Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie

Es kommt darauf an, wie und von wem über die Störung gesprochen wird. Es gibt durchaus sehr problematische Veröffentlichungen in den sozialen Medien zu Anorexie und selbstverletzendem Verhalten.

Sind Selbstdiagnosen über Social Media-Videos sinnvoll?

Es kann grundsätzlich sinnvoll sein, sich über die eigenen Befürchtungen zu vergewissern und zu sehen, dass es für die eigenen möglicherweise peinlichen Gedanken oder beängstigenden Erlebnisse Erklärungen gibt und Betroffene Hilfe finden können. „Oftmals trauen Betroffene sich nicht – oder jedenfalls nicht sofort – sich zu offenbaren und einen Arzt oder Therapeuten aufzusuchen, um die Befürchtungen zu besprechen“, weiß Dr. Martin Jung.

Die Schwierigkeit hinter Selbstdiagnosen über Social Media ist die mangelnde oder oft fehlende Kenntnis weiterer Umstände, die das Abgrenzen von Erkrankungen mit ähnlicher Symptomatik ermöglichen – dazu gehört auch eine körperliche Untersuchung und das Einschätzen von Schweregrad und Prognose. Nur daraus ergeben sich letztlich auch die Therapievorschläge für die Betroffenen.

„Videos, wie sie auf TikTok zu finden sind, haben oft einen hohen Suggestionseffekt und lassen wenig Differenzierung zu. Hinzukommt, dass gerade Jugendliche in diesem Lebensabschnitt auf der Suche nach Identität sind und oft Verunsicherung über die eigene Person herrscht“, sagt der Chefarzt.

Der blinde Fleck bei Selbstdiagnosen

Es kann zwar durchaus helfen, entsprechende Hinweise aus dem Netz zu entdecken und für sich Erklärungen zu finden, aber eine richtige Diagnosestellung ermöglichen solche Videos nicht. So sagt der Kinder- und Jugendpsychiater: „Das Problem ist der ´blinde Fleck`, den man für die eigene Person immer hat, und der die nötige Objektivität der Selbsteinschätzung verhindert. Die Gefahr einer Fehleinschätzung ist ohne weiteres gegeben.“

Getroffene Selbstdiagnosen können beispielsweise zu der fehlerhaften Vorstellung an einer psychischen Krankheit zu leiden, zu falschen und das Leben nachhaltig beeinträchtigenden Überzeugungen, zu unwirksamen oder schädlichen (Selbst-) Behandlungsversuchen oder Scheintherapien führen. Letztlich kann es dazu kommen, dass Betroffene eine wirksame Therapie nicht in Angriff nehmen.

Können Videos zur Selbstdiagnose mentale Störungen verharmlosen?

Es ist durchaus denkbar, dass Jugendliche ihre Symptome fehldeuten und eine Erkrankung vermuten, die gar nicht vorliegt oder aber Hinweise auf ernsthafte Störungen übersehen und sich keine Hilfe holen. Darüber hinaus können solche Inhalte dazu beitragen, psychische Störungen zu idealisieren und diese verschlimmern.

Bekannte Beispiele lassen sich auch bei Anorexie und den damit verbundenen Pro Ana-Inhalten finden.

Haben Videos über mentale Gesundheit auch Vorteile?

Es kommt immer auf die Intention an. Zwar können sich junge Menschen gerade auf Plattformen wie TikTok über ihre psychische Verfassung informieren und finden so eine Gemeinschaft, aber es besteht auch die Gefahr der Fehleinschätzung. „Wünschenswert wäre es, wenn Kinder in der Familie und/oder Schule über Möglichkeiten der eigenen Psychohygiene informiert würden, um mit Alltagsbelastungen wirksam umgehen zu können“, sagt Dr. Martin Jung.

Zur Psychohygiene zählen alle Maßnahmen, die dem Schutz und Erhalt der mentalen Gesundheit dienen. Kinder, aber auch Jugendliche sind dabei auf die Hilfe der Erwachsenen angewiesen. Denn diese leben vor, welche Maßnahmen zu emotionalem Wohlbefinden führen, psychischen Störungen vorbeugen oder helfen, mit belastenden Situationen umzugehen. Auf diese Weise lernen sie, sich selbst zu regulieren, Spannungs- und Misserfolge auszuhalten und sich über Erfolge zu freuen. Dazu gehören Hobbys, soziale Kontakte, sich im Gespräch zu öffnen und Rituale.

Was können Jugendliche machen, wenn sie eine „Selbstdiagnose“ stellen?

Wer denkt, er hätte eine psychische Erkrankung, sollte sich zunächst mit den Eltern oder Freunden austauschen und einen Abgleich mit dem näheren Umfeld machen. Das hilft dabei, einzuordnen, ob das empfundene Verhalten auch von anderen wahrgenommen wird oder nicht. Es ist sozusagen ein erster Realitätscheck.

„Wenn das Kind ein gutes Verhältnis zu seinen Eltern hat und auf sie zugeht, wäre das auf jeden Fall eine vertrauensvolle und wünschenswerte Reaktion des Kindes, die weitere Schritte ermöglicht. Dann rate ich dazu, dass Eltern die Sorgen ernstnehmen, Loben für die Offenheit und gemeinsam über mögliche professionelle Hilfen nachdenken“, sagt der Chefarzt.

Auch Tanten, Onkel, die Großeltern oder Lehrkräfte können erste Ansprechpartner:innen sein. In jedem Fall sollten sich Kinder und Jugendliche an eine Person wenden können, der sie vertrauen.

Helios Klinikum Schleswig - Kinder- und Jugendpsychiatrie

Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie

Wünschenswert wäre es, wenn Kinder in der Familie und/oder Schule über Möglichkeiten der eigenen Psychohygiene informiert würden, um mit Alltagsbelastungen wirksam umgehen zu können.

An wen können sich Eltern und Betroffene wenden?

Abhängig vom Schweregrad der Symptome können sich Eltern zum Beispiel an die Hotline der Kassenärztlichen Vereinigung 116 117 wenden, um eine akute Einschätzung zu erhalten, oder aber Beratungsstellen kontaktieren. Bei sehr starken Symptomen ist auch eine Vorstellung im Notdienst möglich.

Kinder und Jugendliche können sich zudem an die Nummer gegen Kummer wenden. Immer Montag bis Samstag von 14 bis 20 Uhr unter 116 111. Das Kinder- und Jugendtelefon ist kostenlos und anonym.

TikTok ersetzt keine Therapie

Videos auf TikTok ersetzen keine professionelle Diagnostik und Therapie. Es könnte ein erster Schritt in die richtige Richtung sein, eine Art Sprungbrett zur Therapie. Aber es braucht mehr als kurze Clips, die keine Abgrenzung zu anderen Erkrankungen herstellen, sondern eher allgemeingültige und vage Aussagen teilen, die von den Konsument:innen als zutreffende Beschreibung für das eigene Befinden wahrgenommen wird.

Fakt ist: Richtige Diagnosen können und sollten nur von Ärztinnen und Ärzten oder Therapeut:innen gestellt werden.

image
Vereinbaren Sie einen Termin mit unseren Experten.
Sie benötigen einen Termin in einer unserer stationären Kliniken oder ambulanten Einrichtungen oder wollen unabhängig vom Ort eine Videosprechstunde vereinbaren? In unserem Patientenportal können Sie Ihren Termin direkt online buchen.