Zwölf Sekunden sind eine Winzigkeit. Eine Zeitspanne, die bewusst kaum wahrgenommen wird. Zwölf Sekunden dauert ein Sirenenton beim Alarmieren der Feuerwehr, in zwölf Sekunden erreicht ein guter Sportler das Ziel des 100-Meter-Laufes. Zwölf Sekunden stand das Herz von Martin aus Magdeburg still. Immer wieder fiel der 16-Jährige in Ohnmacht. Unkontrolliert, ohne vorherige Anzeichen. Die Folge waren Kopfverletzungen, blaue Flecken und die immerwährende Angst, dass die Situation einmal zu Schlimmerem führen könnte. Die Ursachenforschung, die Mediziner betrieben, brachte jedoch kein Ergebnis.
Martin hatte keinen angeborenen Herzfehler, er spielt aktiv Fußball, ist ein aufgeweckter, normaler Junge. Nur in für ihn extremen Stresssituationen kollabiert sein Körper, verkrampft sich und bringt den Jungen damit in Gefahr. So auch im Dezember 2019. „Mitten im Biologieunterricht”, berichtet Martins Mutter Doreen, „ist er wieder ohnmächtig geworden.” Der behandelnde Arzt hat dem Jungen deshalb ein Langzeit-EKG verordnet. Und ihm damit wohl unbewusst das Leben erleichtert. Denn eine, noch am selben Tag im heimatnahen Krankenhaus der Familie durchgeführte, ärztliche Kontrolle verlangte eine Blutabnahme – die erneut zur Ohnmacht führte. Erstmals konnte dank des EKG bei Martin ein totaler Herzstillstand diagnostiziert werden. Ein Alarmsignal, das den Patienten schließlich mit MUDr. Roman Gebauer zusammenführte. Der Oberarzt an der Universitätsklinik für Kinderkardiologie am Herzzentrum nahm sich des Jugendlichen an und erkannte sofort, das hier Handlungsbedarf bestand. „Drei Alternativen hatten wir zur Auswahl: einen Herzschrittmacher, eine neuartige Operationsmethode oder das Belassen der Situation. Letzteres kam für uns überhaupt nicht infrage. Auch den Schrittmacher lehnten wir ab, da er sich im Sport, den Martin liebt, als hinderlich erweisen könnte“, blickt Mutter Doreen zurück. Stattdessen vertraute die Familie dem Leipziger Arzt und wagte die neue OP. „Je älter ein Mensch wird, um so gefährlicher könnte eine Situation, wie sie Martin betroffen hat, sein“, verdeutlicht Gebauer, der seit 2008 am Herzzentrum Leipzig arbeitet. Der gebürtige Tscheche weiß aber auch, dass dieses Krankheitsbild, wie Martin es hat, eher selten ist. Dementsprechend wenig Forschungsarbeit gibt es hierzu. Die Ursache dieser Erkrankung, sagt er, liegt in einer pathologisch gesteigerten vagalen Reaktion des Körpers, bei der das Herz der Patienten für längere Zeit (in der Regel 10 bis 30 Sekunden) „stehen bleibt“ und der Patient das Bewusstsein verliert (synkopiert). Bisher konnten diese Patienten allein mit einem Herzschrittmacher versorgt werden. Ein gewisser Anteil an Patienten blieb jedoch weiterhin symptomatisch. Zudem bedarf ein Herzschrittmacher regelmäßiger Kontrolle und Wartung und damit verbundener Krankenhausaufenthalte. Im Verlaufe seiner Arbeit las Gebauer von einem brasilianischen Kollegen, der sich mit diesem Thema intensiv beschäftigt. Die Methode, die sogenannte Neurokardioablation, plante MUDr. Gebauer nun auch für Martin: ein in Deutschland bislang einmaliger medizinischer Eingriff. „Jedes Organ“, erläutert der Mediziner, „steht unter dem Einfluss vom vegetativen Nervensystem, das unser Körpersystem unbewusst steuert. Dazu gehören der Sympathikus und der Parasympathikus.“ Während der Sympathikus für schnellere Herzschläge sorgt, etwa beim Sport, regelt der Parasympathikus die Verlangsamung der Schlagzahl. Genau dann, wenn der Körper in Ruhephasen ist. Bei Martin jedoch, sagt MUDr. Gebauer, wurde der Parasympathikus anfallsweise derart stark gereizt, dass das Herz des Jungen zum Stillstand kam. Immer dann, wenn sein Körper durch Schmerz oder anderes gestresst war. Insgesamt zehn Mal in seinem noch jungen Leben. Gemeinsam mit MUDr. Dan Wichterle, einem Experten aus Prag mit Expertise in der Neurokardioablation bei erwachsenen Patienten, nahm Oberarzt Roman Gebauer die Operation in Leipzig vor. Viele Kollegen, auch außerhalb der Kinderkardiologie, folgten dem Geschehen mit Interesse. Innerhalb von zwei Stunden wurden die „Nervennetze“, die sich hinter dem rechten und linken Vorhof von Martins Herz befinden, mittels Radiofrequenzenergie und unter Zuhilfenahme von drei Millimeter starken Kathetern bei etwa 50 Grad Celsius gezielt verödet. „Der junge Patient konnte im guten klinischen Zustand schon am Folgetag entlassen werden“, betont Gebauer stolz. Martin geht es heute noch immer gut. „Trotz ähnlicher Stresssituationen hatte er noch keinen Rückfall, keine Ohnmacht“, freut sich dessen Mutter. Stattdessen verspürte er nur ein leichtes Unwohlsein, was sein Herz aber nicht dazu veranlasste, das Schlagen zu beenden. Martins Erfolgsgeschichte und die der Operation möchte MUDr. Roman Gebauer nun in medizinischen Kreisen publizieren. Schon heute, sagt er, gebe es eine Liste mit weiteren Patienten, an denen man diese Methode im Herzzentrum Leipzig anwenden möchte. Ob Säuglinge, Kinder, Jugendliche oder Erwachsene mit angeborenen Herzfehlern: Im Kinderherzzentrum begleiten erfahrene Ärzte und Pflegekräfte ihre Patienten oft über viele Jahre.