Lina Schwerg forscht zu einem nicht besonders populären Krankheitsbild: Fetale Alkoholspektrumstörung, kurz FASD. Eine Erkrankung, die auf Alkoholkonsum der Mutter während der Schwangerschaft zurückzuführen ist. In Deutschland ist Alkohol gesellschaftlich fest verankert und ein breiter Absatzmarkt. „Leider herrscht hierzulande noch immer der Mythos, dass ein Gläschen Sekt oder Wein während der Schwangerschaft okay sei“, sagt die 46-Jährige. „Dabei wissen wir längst aus Studien, dass jeder Tropfen Alkohol zu viel ist und zu geistiger und körperlicher Fehlbildung des Kindes führen kann.“
Das Risiko ist real. Hochrechnungen zufolge sind ein bis zwei Prozent der geborenen Kinder in Deutschland von FASD betroffen. Die Dunkelziffer liegt wahrscheinlich deutlich darüber. Statistisch bekommt jedes 13. Kind, bei dem die Mutter während der Schwangerschaft Alkohol – unabhängig von der Menge – getrunken hat, eine FASD. Damit ist dieses Störungsbild die häufigste bei Geburt bestehende chronische, nicht heilbare Erkrankung. Doch nicht jeder Alkoholkonsum während der Schwangerschaft erfolgt bewusst. „Zum Teil wissen die Frauen gar nicht, dass sie Schwanger sind zum Beispiel in den ersten Wochen.“ Daher rät die Expertin beim Wunsch Schwanger zu werden, generell auf Alkohol zu verzichten. Das gilt übrigens auch für den Mann: „Alkohol schädigt die Spermien, daher sollten Männer ab sechs Monate vor dem Kinderwunsch keinen Alkohol trinken“, sagt Schwerg.
Die Folgen
FASD zeigt sich unter anderem durch ein niedriges Körpergewicht, geringe Körpergröße, Entwicklungsstörungen von Gehirn und Nervensystem sowie Schäden von Augen, Gesicht, Herz, Nieren oder Knochen. Besonders augenscheinlich seien kraniofaziale Veränderungen, also charakteristische Gesichtsmerkmale wie eine schmale Oberlippe, verstrichenes Philtrum, verkürzte Augenliedspalte und ein kleinerer Kopf, sagt Schwerg. Daneben gebe es aber vor allem Auffälligkeiten im Verhalten wie Impulsivität, emotionale Labilität, geringe Frustrationstoleranz sowie Schwierigkeiten im sozialen Umgang und in der Perspektivübernahme sowie distanzloses Verhalten. Etwa die Hälfte der Betroffenen leide zudem an ADHS.
Forschung steckt in den Kinderschuhen
Während Länder wie Kanada oder die USA schon seit Jahren umfassender forschen, begann die Diagnostik von FASD bei Erwachsenen in Deutschland erst 2014. „Länder, in denen es die Prohibition gab, sind viel weiter als wir“, sagt Schwerg. Seit den Anfängen begleitet sie die deutsche Forschung von FASD bei Erwachsenen. Da das Krankheitsbild in der Bundesrepublik relativ jung ist, sind viele betroffene Erwachsene „durchs Raster gefallen“. Viele seien schon in Kindheit und Jugend auffällig gewesen, hätten Probleme in Schule und Beruf, aber aufgrund mangelnden Wissens keine Diagnose bekommen. „Je früher wir FASD erkennen, desto besser können wir Strategien entwickeln, die Betroffenen und ihren Familien im Umgang mit der Krankheit helfen“, sagt die Preisträgerin.
Neues Screening ermöglicht einfachere Erkennung
Die FASD-Diagnose bei Erwachsenen bleibt weiterhin schwierig. Schwerg hat jedoch ein Screeninginterview mit 32 Fragen entwickelt, mit dem in maximal zehn Minuten anhand eines Scores der Verdacht auf eine FASD-Diagnose erhärtet werden kann. Das gibt Orientierung, ob ein aufwendiger Diagnoseprozess für den Patienten sinnvoll ist. Dafür wurde sie in München mit dem FASD Deutschland Award ausgezeichnet. Der dahinterstehende FASD Deutschland e.V. ist ein Zusammenschluss von Eltern (Pflege-, Adoptiv- und leibliche Eltern), Hauptbezugspersonen (Erzieher, Lehrer, Ausbilder und weitere), Medizinern, Psychologen sowie weiteren an der Thematik interessierten Menschen. Neben der Prävention zur Vermeidung vorgeburtlicher Schäden durch Alkohol, setzen sie sich für die Verbesserung der Teilhabebedingungen für Menschen mit FASD in der Gesellschaft ein.
Wechsel zu Helios
Trotz ihres großen Interesses für FASD wollte sich die studierte Psychologin fachlich breiter aufstellen. Seit anderthalb Jahren arbeitet Schwerg im Helios Hanseklinikum Stralsund, genauer gesagt in der Psychiatrischen Tagesklinik und Institutsambulanz Ribnitz-Damgarten. Sie behandelt Patientinnen und Patienten mit verschiedenen Erkrankungen wie Depression, Suchterkrankungen oder Angststörungen. Zuvor war sie als Dozentin und Supervisorin mit Schwerpunkt FASD selbstständig tätig. „Dass ich neben meiner eigentlichen Tätigkeit den Award gewinnen konnte, macht mich sehr stolz“, sagt sie. Auch die Kollegen hätten sich sehr für sie gefreut.
Ein Blick nach vorn
Eines steht fest: Es gibt kein „sicheres“ Trinken in der Schwangerschaft. Doch nicht jeder Mensch mit FASD ist dauerhaft auf Hilfe angewiesen. Viele entwickeln Strategien, um mit den Einschränkungen umzugehen. Vor allem aber gilt: Das Wissen um die Symptome, insbesondere im Erwachsenenalter, muss in der Gesellschaft und Ärzteschaft stärker verbreitet werden. Denn Schwerg stellt klar: „Es ist nie zu spät für eine Diagnose. Sie hilft Betroffenen nicht nur im Kindes- und Jugendalter, sondern auch darüber hinaus. Entscheidend ist eine gute psychologische und soziotherapeutische Begleitung.“