Was Tetjana denkt, welchen Schmerz sie in sich trägt und welche Ängste sie plagen, ist für Außenstehende nur schwer auszumachen. Unbestritten ist jedoch, dass die 41-Jährige und ihre beiden Kinder Danylo (14) und Yulianna (10) harte Zeiten durchlebten. Unter Beschuss, kaum mehr als das Nötigste am Leib, verließen sie mit dem Auto ihre Heimatstadt Cherson. Die 290.000 Einwohner zählende Stadt oberhalb der Krim ist heute russisch besetzt.
Aus dem anfänglichen „Einfach nur weg hier!“ wurde bald Deutschland das Ziel. Über Lemberg und Polen traf die Familie schließlich am 1. Juni an der deutschen Grenze ein. Nach der Erstaufnahme in Chemnitz wurden die Mutter und ihre Kinder in ein Aufnahmelager nach Suhl gebracht. Was Tetjana hier erlebte, war allerdings nicht die erhoffte Ruhe.
Mehrere Versuche
Für andere Menschen da zu sein, gehört zu den festen Charaktereigenschaften von Mathias und Bernadette Kretschmer. Diesen Wesenszug leben sie nicht nur in ihrem christlichen Glauben aus, auch beruflich zeigt sich, dass beide anderen Menschen helfen wollen. Während Mathias Kretschmer als Krankenpfleger arbeitet, ist seine Frau in der Helios Klinik Leisnig Leiterin des Sozialdienstes. „Schon nach dem Eintreffen der ersten Flüchtlinge stand für uns fest, dass auch wir einen Beitrag leisten wollen“, berichtet Bernadette Kretschmer. Mehrfach nahmen sie Kontakt zum zuständigen Landratsamt auf, bekamen Anfragen, bereiteten darauf hin im eigenen Haus die Zimmer vor und mussten doch immer wieder erfahren, dass ihre Hilfe aktuell nicht gebraucht würde. Ihr Interesse daran, aktiv helfen zu wollen, konnte das aber nicht ausbremsen. „Wohnraum für flüchtende Ukrainer“ heißt eine Seite auf Facebook, die auch Kretschmers abonnierten. Auf ihr lasen sie schließlich von Tetjanas Schicksal und deren Suche nach einer neuen, friedlichen Bleibe.
Vielsprachig
Dass der Wohnort von Mathias und Bernadette Kretschmer sieben Kilometer von Leisnig entfernt kaum öffentliche Infrastruktur aufweist, störte die junge Familie aus der Ukraine nicht. Viel wichtiger war, dass sie hier mit offenen Armen und herzlich empfangen wurden, dass man seither nichts unversucht lässt, ihnen einen Weg in die Zukunft zu ebnen. „Menschlich passt es wunderbar“, sagt Bernadette Kretschmer. Tetjana und ihre Kinder seien überaus dankbar und dennoch darauf bedacht, niemandem zur Last zu fallen.
Die Kommunikation untereinander laufe auf Englisch, Deutsch, etwas Russisch und notfalls mit dem Google Übersetzer. Danylo und Yulianna sind zudem emsig bestrebt, Deutsch zu lernen. Entsprechende Bücher des Freistaates Sachsen haben ihnen Kretschmers organisiert, ebenso wie sie den Schulbesuch der beiden möglich machten. „Nicht zuletzt dank der unkomplizierten Hilfe einer Schulleiterin“, ergänzt Mathias Kretschmer.
Tetjana selbst würde auch gern durchstarten. Doch dafür fehlt noch immer die offizielle Registrierung. Aktuell besitzen sie und die Kinder lediglich eine Ausnahmegenehmigung des Landratsamtes Mittelsachsen. „Wir hoffen sehr, dass sich das bald ändert“, sagt Bernadette Kretschmer.
Bekanntes Schicksal
Da die Familie auf der Flucht keine persönlichen Wertsachen oder Kleidung mitnehmen konnte, halfen in Leisnig Kretschmers, aber auch viele ihrer Freunde und Arbeitskollegen aus. Auf die eigens für Ukrainer eingerichtete Kleiderkammer setzte man allerdings vergeblich Hoffnung. Die ist bereits wieder geschlossen.
Dass diese Hilfe viel Zeit, Nerven und auch Geld kostet, wissen Kretschmers. „Unsere Eltern erlebten nach dem Zweiten Weltkrieg von Schlesien kommend ein ähnliches Schicksal. Was Tetjana und ihren Kindern passiert, lässt uns deshalb nicht kalt. Auch dass ihre Eltern nach wie vor in Cherson leben, ist beängstigend“, begründet Bernadette Kretschmer ihr Engagement.
Der Wunsch bleibt
Radtouren durch die Region, ein Berlinbesuch, Schlauchbootfahrten, gemeinsames Kochen oder aber das gemeinsame Besuchen von Familienfeiern der Kretschmers festigen das Band zwischen ihnen. Wie lange Tetjana, Danylo und Yulianna noch im Hause Kretschmer wohnen, vermag niemand zu sagen. „Es dauert halt so lange, bis alle Hürden beseitigt sind und die Familie ihren eigenen Weg geht“, sagt Mathias Kretschmer. Ginge es nach Tetjana, so würde dieser Weg dereinst zurück in die Heimat führen. Doch das scheint nach gegenwärtiger Lage eher ein Wunschdenken zu bleiben.