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Psychisch Erkrankte wurden sich selbst überlassen

Seit Corona in das alltägliche Leben Einzug hielt, ist auf dem Globus nichts mehr, wie es war. Über viele Jahre einstudierte und bewährte Abläufe mussten ausnahmslos auf den Prüfstand und wurden, wenn nötig, grundlegend neu definiert. Kein anderer Bereich hat das derart zu spüren bekommen wie die Medizin. Schritt für Schritt sucht und wagt man nun den Weg zurück in die veränderte Normalität. In deren Handbuch steht, dass es aus den Erfahrungen der vergangenen zwei Jahre zu lernen gilt. Alleingänge helfen dabei aber nicht weiter. Netzwerke wie LeiP#netz, dessen Partner sich der Versorgung psychisch Kranker widmen, tragen daher Vorbildcharakter.
19. November 2021

Nichts ist beständiger als eine Statistik. Nichts stellt Fakten deutlicher dar, als ein Werk aus Zahlen. Um die medizinische Versorgung von psychisch Erkrankter während der Coronapandemie genauer analysieren zu können, haben die Kooperationspartner des Netzwerkes LeiP#netz unter anderem auf die Dissertation von Jonathan Mathias Faßhauer (in der Betreuung von Prof. Dr. Katarina Stengler) zurückgegriffen. Dieser hat sich in seiner Doktorarbeit mit den Auswirkungen der Covid-19 Pandemie auf die psychiatrischen Versorgungsstrukturen in Deutschland befasst und dabei neben anderem die Fallzahlen der Helios Kliniken des Jahres 2020 mit denen der Kontrollzeiträume 2018 und 2019 verglichen.

Das Ergebnis, zu dem Faßhauer kommt, muss als ein Warnsignal verstanden werden. Denn während die Gesamtzahl der klinischen Aufnahmen in 2020 numerisch sank, stieg der Anteil dringlicher stationärer Aufnahmen drastisch an. Vor allem der prozentuale Anteil unfreiwilliger Aufnahmen, die laut Faßhauer mit Zwangsmaßnahmen oder Zwangsmedikation einhergingen, weist einen deutlichen Anstieg auf. Der parallele Anstieg häuslicher Gewalt während des Lockdowns passt in dieses Bild. Im Gegensatz dazu steht die, ebenfalls pandemiebedingte, Verkürzung der notwendigen Aufenthaltsdauer der Patienten im Klinikum.

Psychisch Erkrankte wurden sich selbst überlassen

„Während der Coronapandemie hat es eine Vielzahl von Forschungsarbeiten gegeben. Die gesamte Situation war neu, weshalb man auf die möglichen Auswirkungen nur eingeschränkt vorbereitet war und nun natürlich für die Zukunft vorbauen möchte“, erläutert Prof. Dr. Katarina Stengler, die Direktorin des Zentrums für Seelische Gesundheit und Chefärztin der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie im Helios Park-Klinikum Leipzig. Unter anderem wurden durch die Kooperationspartner des Netzwerkes LeiP#netz, dem Helios Park-Klinikum Leipzig, dem Gesundheitsamt der Stadt Leipzig und der Medizinischen Fakultät der Universität Leipzig, Fragebögen an 77 Einrichtungen sowie betroffene Patienten und deren Angehörige verschickt. Die Antworten spiegeln in gleicher Weise das Ergebnis der benannten Dissertation wieder.

Corona macht etwas mit den Menschen, könnte man das klare Fazit der Untersuchungen nennen. Und das nicht nur im negativen Sinn. „Die Veränderungen der Situation haben auch gezeigt, dass Menschen in Krisensituationen enger zueinanderstehen. Ein Effekt, der sich bereits bei Naturkatastrophen regelmäßig zeigt“, führt die Psychiaterin weiter aus. Im Falle der psychisch Erkrankten sei während des Lockdowns eine verstärkte Solidarität untereinander erkennbar gewesen.

„In zukünftigen Krisensituationen muss die Versorgung von psychisch erkrankten Menschen besser und von Anfang an sichergestellt sein“, fordert Jonathan Faßhauer abschließend in seiner Dissertation. Ein Urteil, das auch die Kooperationspartner von LeiP#netz vollends mittragen. Angesichts des erneuten Anstiegs der Covid-Inzidenzen ist diese Etappe keineswegs abgeschlossen. Lernen lässt sich hier auch aus der Geschichte, Denn schon Perikles, Feldherr und Politiker des alten Athen, (um 500 bis 429 v. Chr.) wusste: „Es kommt nicht darauf an, die Zukunft vorauszusagen, sondern darauf, auf die Zukunft vorbereitet zu sein.“

Fasshauer, J.M., Bollmann, A., Hohenstein, S., Hindricks, G., Meier-Hellmann, A., Kuhlen, R., Broocks, A., Schomerus, G., Stengler, K., 2021a. Emergency hospital admissions for psychiatric disorders in a German-wide hospital network during the COVID-19 outbreak. Soc Psychiatry Psychiatr Epidemiol 56, 1469–1475. https://doi.org/10.1007/s00127-021-02091-z

Fasshauer, J.M., Bollmann, A., Hohenstein, S., Mouratis, K., Hindricks, G., Meier-Hellmann, A., Kuhlen, R., Broocks, A., Schomerus, G., Stengler, K., 2021b. Impact of COVID-19 pandemic on involuntary and urgent inpatient admissions for psychiatric disorders in a German-wide hospital network. J Psychiatr Res 142, 140–143. https://doi.org/10.1016/j.jpsychires.2021.07.052

Fasshauer, J.M., Schomerus, G., Stengler, K., 2021c. [COVID-19 Pandemic and Psychiatry - How much have the Interests of People with Psychiatric Disorders been Considered in German Laws?]. Psychiatr Prax 48, 309–315. https://doi.org/10.1055/a-1353-1774