Der Online-Kongress Zwangserkrankungen findet am 24./25.09.2021 live aus dem Helios Park-Klinikum Leipzig in Zusammenarbeit mit der Deutschen Gesellschaft für Zwangserkrankungen e.V. statt. Hier geht’s zum Programm.
Prof. Dr. med. Katarina Stengler, Direktorin des Zentrums für Seelische Gesundheit und Chefärztin der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie am Helios Park-Klinikum Leipzig, agiert als Tagungspräsidentin und wissenschaftliche Leiterin des Fachtreffens.
Frau Prof. Stengler, welche Bedeutung hat der Online-Kongress für die psychiatrische Arbeit und die betroffenen Personen?
Zunächst muss man sagen, dass Zwangserkrankungen in der psychiatrischen Arbeit einen hohen Stellenwert einnehmen. Sie sind nach affektiven Störungen, Depressionen und Angsterkrankungen sowie Suchterkrankungen die vierthäufigste psychische Erkrankung. So gesehen gibt es einen großen Personenkreis, den dieses Thema direkt betrifft.
Ist die Deutsche Gesellschaft für Zwangserkrankungen somit ein Gremium, in dem sich Experten dieses Themengebiets fachlich austauschen?
Nicht nur professionelle Expertinnen und Experten im herkömmlichen Sinne. Die Gesellschaft für Zwangserkrankungen verfolgt von Beginn an einen partizipativen Ansatz. In ihren Grundsätzen ist verankert, dass auf allen Ebenen sowohl Betroffene als auch Angehörige und professionelle Therapeuten eng zusammenarbeiten. Dass Patient:innen und deren Angehörige bei wichtigen Entscheidungen der Erkrankungsdiagnostik, Behandlungspfaden oder bestimmten Behandlungsstrukturen mit einbezogen werden, ist keineswegs selbstverständlich.
Was genau kennzeichnet Zwangserkrankungen?
Oftmals spricht man in diesen Fällen von einer heimlichen Erkrankung, weil der Großteil der Betroffenen heimlich Dinge ausführt, die peinlich oder mit großer Scham besetzt sind und die Menschen in eine Nische zwängen oder stigmatisieren. Die Erscheinungsbilder der Krankheit können extrem vielschichtig sein, vom überzogenen Waschzwang, über das krankhafte Sammeln und Horten, den Kontrollzwang oder das Bedürfnis, nichts wegwerfen zu wollen. Es sind Dinge, von denen die Betroffenen selbst wissen, dass sie unsinnig, übertrieben, kurzum „verrückt“ sind. Trotzdem müssen sie es tun. Diese Einsicht wird oft sehr peinlich und schamvoll erlebt, weshalb Betroffene erst sehr spät, teilweise nach mehr als zehn Jahren, signalisieren, dass sie Hilfe benötigen.
Aber irgendwann ist dann doch der Punkt erreicht, dass sie mit der Situation überfordert sind.
Betroffene Patientinnen und Patienten suchen oft erst dann den Weg in die ambulante oder stationäre Behandlung, wenn die Erkrankung ein chronisches Ausmaß angenommen hat, wenn ihr Lebensalltag dadurch erheblichen Einschränkungen unterliegt, die ein normales gesellschaftliches Leben unmöglich werden lassen. Das schließt auch den Arbeitsalltag mit ein. Diese späte Erkenntnis führt allerdings dazu, dass die Behandlung schwerwiegend und langanhaltend ist.
Gibt es einen spürbaren Anstieg der Krankheit durch Corona?
Explizit so nicht. Allerdings ist es für Patienten, die an einer schweren psychischen Erkrankung leiden, zu denen auch die Zwangserkrankungen zählen, während der Pandemie schwieriger geworden. Das schließt auch die Angehörigen dieses Personenkreises mit ein. Die Kapazitäten der ambulanten und stationären Versorgungssysteme haben sich bekanntermaßen auf die Coronaerkrankten im engeren Sinne, auf Intensivkapazitäten, auf stationäre Notfall- und Krisenversorgung fokussiert. Bei anderen Versorgungssegmenten, ambulanten und komplementären Einrichtungen, Tagesstätten, zu denen psychisch schwer Erkrankte gehen können, wurden durch Corona für lange Zeit die Angebote stark zurückgenommen. Viele häusliche Situationen hat die Corona-Pandemie und deren Regelungen dramatisch verschlimmert. Das war auch für Zwangserkrankte und deren Angehörige eine außergewöhnlich belastende Zeit.
Menschen welchen Alters sind denn von Zwangsstörungen besonders betroffen?
Untersuchungen haben gezeigt, dass es zwei Altersspitzen gibt, an denen die Krankheit stark ausgeprägt ist. Das betrifft zum einen Peak im Kindes- und Jugendalter, sowie um das frühe Erwachsenenalter bis etwa zum 25. Lebensjahr. Es ist nicht selten, dass junge Menschen damit schon eine Krankheitsgeschichte aufweisen, die zehn Jahre und länger währt. Nur ein verschwindend geringer Anteil der Patienten erkrankt nach dem 35. Lebensjahr neu. Oftmals sind hier enorme Belastungssituationen der Auslöser. Die wirklich schweren Verläufe jedoch nehmen ihren Anfang im Kindes- und Jugendalter.
Was sollte man tun, wenn man eine Zwangsstörung bei sich erkennt, wenn normale Abläufe im Alltagsleben relevant beeinträchtigt sind?
Viele Betroffene erzählen uns, dass auch die für sie erkennbaren Punkte der Erkrankung schon Jahre zurückliegen. Angehörige hingegen nehmen erste Veränderungen viel früher war. Sie melden die Erkenntnis zwar relativ schnell zurück, aber die Betroffenen sind oft noch nicht soweit, dass sie eingestehen können, dass ihr Handeln krankhaft ist und sie sich in professionelle Hände begeben sollten.
Das Zentrum für Seelische Gesundheit des Helios Park-Klinikums Leipzig nimmt sich seit langer Zeit schon der Patienten mit Zwangserkrankungen an. Geht Ihr Haus dabei besondere Wege?
Ich selbst bin seit zwanzig Jahren mit dem Thema in Forschung und Versorgung beschäftigt. Es gibt hier ein kleines Kernteam, dass sich bereits mit mir im universitären Kontext mit diesem Thema auseinandersetzt und dies bis heute weiterverfolgt. Zudem gibt es heute gute Behandlungsleitlinien für Zwangserkrankte auf höchstem wissenschaftlichen Niveau, in diesen werden unter anderem hochwirksame psychotherapeutische und medikamentöse Strategien beschrieben. Was allerdings in der Vergangenheit nicht selten vernachlässigt wurde, sind psychosoziale Therapien. Etwa wenn es um den Stellenwert des Arbeitsplatzes der Zwangserkrankten geht, um die Themen Wohnen, soziales Umfeld. Die Medizin ist lange darauf konzentriert gewesen, dass Menschen in stationäre oder ambulante Behandlung kommen, therapiert wurden, um anschließend wieder in ihr häusliches Umfeld entlassen zu werden. Das greift zu kurz. Unsere Idee ist, dass wir viel stärker im häuslichen Kontext behandeln müssen – den systemischen, familiären, beruflichen, sozialen Alltag einbeziehen und dabei auch die gesunden Anteile der Patienten berücksichtigen. Niemand ist nur krank. Es gibt immer auch verbliebene Stärken und Ressourcen!
Das heißt, Sie behandeln die Patienten zuhause?
Richtig. Wir müssen dorthin, wo die Probleme auftreten. Wir müssen die Behandlung zum Betroffenen bringen und dadurch die Angehörigen in die Therapie stärker einbinden. Auch ist der Erhalt des Arbeitsplatzes trotz schwerer Symptome wichtig, statt eine lange Krankschreibung auszustellen. Behandlung und Arbeit müssen parallel verlaufen, was durch ambulante und tagesklinische Behandlung möglich oft gut möglich ist. Diesen Fokus stärker darauf zu legen, dass es nicht nur um die Behandlung in eigener Sache geht, sondern dass auch das Lebensumfeld mit einzubeziehen ist, ist ein Schwerpunkt unseres Hauses; bei allen psychischen Erkrankungen, so auch bei Zwangsstörungen. Darüber hinaus beziehen wir breite psychosoziale Therapien in den Versorgungskontext ein: Sport-, Musik- und künstlerische Therapien, die zum Genesungsprozess wesentlich beitragen.
Was gilt es zu tun, um das Abgleiten in eine Zwangserkrankung zu vermeiden?
Das A und O ist die Selbstbeobachtung. Bin ich im täglichen Dasein beeinträchtigt, ist mein Alltag gestört, tu ich Dinge häufiger als andere Menschen. Stehe ich beispielsweise täglich zwei, drei Stunden zeitiger auf um die Wohnung aufzuräumen, kontrolliere ich elektrische Geräte unablässig darauf, ob sie ausgeschalten sind, wasche ich mir die Hände nochmals und nochmals, obwohl sie sauber sind? Aber auch überzogene Risikoanalysen können zwanghaft sein. Gleiches gilt übrigens auch für Zwangsgedanken, die zu Panik und Angst und damit zur Lähmung im Alltag führen können. Wenn ich das erkenne, ist sicher der richtige Zeitpunkt, Hilfe zu holen.
Was versprechen Sie sich vom Kongress?
Leider ist er nur ein Onlineformat. Dennoch erhoffen wir uns in erster Linie durch eine bewusst breite thematische Aufstellung ein großes öffentliches Interesse, das dabei helfen kann, die Stigmatisierung psychischer Erkrankungen und der Zwangserkrankung ganz im Speziellen zu minimieren.
Das Onlineformat hat aber auch einen Vorteil, denn dadurch kann diese Botschaft einer breiten Masse zugänglich gemacht werden, um sie für Zwangserkrankungen zu sensibilisieren. Zudem freue ich mich auf viele gute Gespräche mit Betroffenen, Angehörigen und Experten sowie interessanten Workshops mit hoffentlich neuen Erkenntnissen, etwa über Strategien zur Selbsthilfe oder verhaltenstherapeutische Expositionen im häuslichen Umfeld.