Anlässlich Jules 14. Geburtstag waren sie und ihre Mutter zu Besuch bei der Patentante in Bernau. Bei einem Ausflug in die Stadt auf dem Weg zur S-Bahn in Bernau, wollten Jule und ihre Mutter über die Ampel gehen. Jules Mutter, Judith Michel, berichtet: „Das war eine Baustellenampel, so eine Art Behelfsampel mit einem Auslieger, und die ist auf sie draufgefallen. Die Ampel war nicht richtig gesichert gewesen und es war ein bisschen stürmisch. Ich habe nach vorne geschaut, ob die Ampel schon grün ist, guck danach wieder zu Jule und sie war weg. Und dann lag sie schon auf dem Boden mit der Ampel auf sich drauf.“ Sofort haben umstehende Passanten geholfen, die Ampel mit hochzuheben und den Notarzt zu rufen. Jule war bei Bewusstsein und hat gleich gesagt: „Mama, Mama, das tut so weh!“ Es ging alles unheimlich schnell, der Notarzt war innerhalb von Minuten da und Jule wurde sofort ins Helios Klinikum Berlin-Buch gebracht. „Es hat sich ziemlich schnell herausgestellt, dass etwas mit der Wirbelsäule nicht in Ordnung ist, weil Jule keine Gefühle mehr in den Beinen hatte“, berichtet ihre Mutter. „Während der notfallärztlichen Erstversorgung standen ihre Patentante und ich vor der Tür und irgendwann kam ein Arzt raus und meinte, er müsste uns darauf vorbereiten, dass sie querschnittsgelähmt ist, weil sie ihre Füße nicht mehr spürt. Das war so schlimm für mich.“ Priv.-Doz. Dr. med. Yu-Mi Ryang, Chefärztin der
Neurochirurgie, erklärt: „Durch den schweren Unfall war die Lunge kollabiert und derBrustkorb mit Blut gefüllt. Aber noch viel schlimmer war, dass Jule ihre Beine nicht mehr bewegen konnte und sie kaum noch spürte. Da wusste ich, wir müssen sofort handeln. Sie hatte einen fast kompletten Querschnitt aufgrund einer schwerwiegenden Verletzungdes Rückenmarks, verursacht durch einen Bruch des vierten, fünften und sechsten Brustwirbels. Als ich am späten Abend von dem Fall informiert wurde, war ich gerade von der Arbeit zurück und wollte mir Abendessen machen. Als mir das Ausmaß der Verletzung mitgeteiltwurde, bin ich sofort zurück in die Klinik und wir haben unmittelbar eine Not-OP durchgeführt.“
Frau Dr. Ryang hat Mutter Judith Michel anhand der CT- und MRT-Bilder ganz genau erklärt, was an der Wirbelsäule verletzt ist und was sie alles in der OP machen muss. Insgesamt drei Mal wurde Jule operiert in einer relativ kurzen Zeit. Jule lag eine Woche auf der Kinderintensivstation.
Judith Michel: „Für mich als Mutter war es sehr schlimm, ich habe die ganze Situation sehr bewusst wahrgenommen. Ich hatte richtiges Kopfkino. Fragen beschäftigten mich wie: Was wäre, wenn du das und das nicht gemacht hättest, dann wäre das auch nicht passiert. Bis dahin, wo ich gesagt habe, hätte ich ein querschnittgelähmtes Kind gehabt, kann ich nicht mehr arbeiten, muss ich aus dem Haus ausziehen, also meine ganze Existenz ist gefährdet. Ich hätte sie nicht alleine gelassen, sondern hätten wir schauen müssen, dass wir das gemeinsam lösen.“ Nach vier Tagen hat Jule wieder gespürt, wenn sie am Fuß berührt wurde. Jule wurde von der Kinderintensivstation in die Kinderchirurgie verlegt und wurde dort eine weitere Woche betreut. „Selber konnte ich mich noch nicht hinstellen, aber mit Unterstützung konnte ich aufstehen und dann kurze Zeit alleine stehen. Laufen ging noch nicht, berichtet Jule. Mutter Judith ergänzt: „Von der Physiotherapie haben wir einen Rollstuhl zur Verfügung gestellt bekommen. Den hatten wir eine Woche und sind dann auch täglich mit ihr rausgegangen.“ Dann erfolgte die Verlegung per Hubschrauber von Berlin-Buch nach Bayreuth für sechs Wochen ins Querschnittszentrum.
Dann die große Erleichterung
In Bayreuth ist Mutter Judith viel mit Jule rausgegangen, im Wald oder durch die Stadt spazieren. Nach zwei Wochen Aufenthalt in Bayreuth kann Jule wieder laufen. Im Anschluss erfolgte noch eine ambulante Reha in Schweinfurt. Seit September geht 2019 geht Jule regelmäßig in ein Fitnesscenter, um sich fit zu halten und Bewegungsabläufe zu trainieren. Judith Michel: „Ich war drei Tage zu Hause und habe das Zimmer umgestaltet. Sie hatte vorher ein Hochbett und hat nun ein Boxspringbett. Das hätte sie in der ersten Zeit nicht hinbekommen, auf ihr Hochbett zu klettern. Da hat es einfach an der Koordination gefehlt. Sie musste einfach wieder laufen lernen von vorne.“
Aktuell kann Jule sich wieder frei bewegen, nur manchmal hat sie noch Schmerzen im Rücken. Jule hat die ganze Sache, auch Gedanken um eventuell nie mehr Laufen können, eine eventuelle lebenslange Querschnittslähmung, gar nicht bewusst erlebt. „Es waren ja zum Glück auch nur drei Tage, an denen ich meine Beine nicht bewegen konnte und man davon ausging, dass ich eventuell nie mehr laufen kann“, berichtet Jule. Jule erzählt: „Ich bin jetzt in der Praktikumsklasse in der Schule. Da schnuppern wir in verschiedene Berufe hinein, um uns später in der Berufswelt besser orientieren zu können. Ich bin sehr zuversichtlich, dass ich das Richtige für mich finden werde.“ Wir wünschen Jule, dass sie den richtigen Weg für sich findet und mit viel Bewegung in eine positive Zukunft startet.