16.000 Schritte für das Leben
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Wie handeln im Notfall?

Notfallmedizin

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Reportage aus der Notaufnahme

16.000 Schritte für das Leben

Zehn Stunden, 42 Patienten und ein lebensbedrohlicher Fall – ein ganz normaler Arbeitstag von Alexander von Freyburg, Leiter der Notfallambulanz des Helios Amper-Klinikums in Dachau.

Das Blaulicht ist schon von weitem zu sehen

Ein paar Sekunden später biegt der Rettungswagen ein. Zwei junge Männer in leuchtend roten Jacken springen aus dem Fahrzeug, öffnen die Türen und schieben den Patienten zügig durch zwei breite Schiebetüren hindurch in den Eingangsbereich. Die Sanitäter stellen die Trage ab, nennen den Namen des Patienten, den Ort, wo sie ihn aufgenommen haben, geben eine Kurz-Diagnose – dann übernimmt das Team der Nothilfe des Helios Amper-Klinikums Dachau.

Eine erprobte Mannschaft. 32.500 Patienten wurden hier 2018 rund um die Uhr behandelt, die Nothilfe hat 24 Stunden am Tag geöffnet. Ihr Kopf: Alexander von Freyburg. Der Oberarzt – weiße Hose, weißes Polohemd, kurzgeschorene Haare, Brille – sitzt an einem Computer einen Meter hinter dem Empfang. Von dieser Position aus hat er alles im Blick. In der Frühschicht stehen ihm vier Gesundheits- und Krankenpfleger sowie drei Ärzte zur Seite.

Wie schlimm steht es um die eingelieferte Patientin?

Grafischer, grauer Wecker, der 09:00 Uhr anzeigt

In Raum 1 analysiert Pfleger Marc den Zustand des Neuzugangs nach dem Manchester-Triage-System. Das bewertet mithilfe der gemessenen Vitalwerte und eines Fragebogens die Dringlichkeit in fünf Stufen – von Blau für nicht dringend bis Rot für sofort. Je leichter ein Patient erkrankt ist, desto länger kann die Wartezeit sein „und umso häufiger sind die Beschwerden über diese Wartezeit", berichtet von Freyburg. Der neue Patient wird aufgrund seiner deutlich verschlechterten Nierenfunktion mit Orange eingestuft – sehr dringend, die Wartezeit darf maximal zehn Minuten betragen.

Im Raum 4 verabschieden sich drei Rettungsassistenten mit Handschlag von Frau W. Pflegerin Maria befestigt einen Sensor an dem linken Ohr der Patientin, um Puls und Sauerstoffsättigung zu messen. Die ältere Frau hat eine kleine Plastiktüte mit ihren Medikamenten mitgebracht. Sie sitzt im Bett, eine Hand liegt auf ihrem stark geschwollenen Leib. Die 71-Jährige klagt über heftige Oberbauchschmerzen. „Gestern habe ich nur vier Salzstangen gegessen." Maria streicht ein farbloses Gel auf den Bauch der Frau. Dann setzt von Freyburg einen Schallkopf auf den Körper und fährt ihn mit leichtem Druck in verschiedenen Richtungen ab.

Das Ergebnis des Ultraschalls ist eindeutig: „Im Bauch hat sich Flüssigkeit angesammelt", erläutert der Mediziner. Sein Befund erklärt den starken Druck. Die Pflegerin legt in der Zwischenzeit einen Blasendauerkatheter und bereitet die Punktion der Bauchhöhle vor. Durch einen durchsichtigen Schlauch wird Frau W. die aufgestaute Flüssigkeit entzogen.

32.500 Patienten wurden 2018 in der Notambulanz behandelt. Für eine mittelgroße Klinik haben wir ein sehr großes Einzugsgebiet.

Alexander von Freyburg, Leiter der Nothilfe | Helios Amper-Klinikum Dachau

Ein Bett für die neue Patientin

Grafischer, grauer Wecker, der 10:20 Uhr anzeigt

Von Freyburg greift zum Telefon: „Habt ihr auf Station C1-01 noch ein Bett frei?", fragt der 41-Jährige die Kollegen des Bettenmanagements. Bevor Frau W. auf die Station aufgenommen wird, wird sie noch zum Röntgen gebracht. Der Oberarzt steht vor seinem Schreibtisch, links von ihm befindet sich die Rohrpost.

Der Mediziner greift zu einem Plastikbehälter, steckt vier Röhrchen hinein, verschraubt ihn und legt ihn ins Rohr. Die Klappe schließt mit einem deutlichen Klack, schon sausen die Blutproben direkt ins Labor. Das Ergebnis erfährt er in rund einer Stunde. Muss es ganz schnell gehen, eilt der Arzt zum Schnelltestgerät, das die Blutwerte innerhalb von 15 Minuten ausspuckt.

Rund zehn Minuten benötigt er pro Befund, der entweder an den Hausarzt oder die betreffende Station geht. Schaut von Freyburg von seinem Computer hoch, fällt sein Blick auf einen Bildschirm, der über der Kollegin am Empfang hängt. Das Arrival Board zeigt an, wann Rettungskräfte mit einem Patienten eintreffen. Die Sanitäter tippen vorab auf einem speziellen Tablet Informationen wie Krankheitsbild und Ankunft ein – so kann sich das Team der Notaufnahme schon im Voraus auf die nächsten Patienten einstellen.

Oft bleibt wenig Zeit zum Durchatmen

Grafischer, grauer Wecker, der 12:40 Uhr anzeigt

„12:58 Schlaganfall > 24 h" steht auf dem Arrival Board. Sofort ruft der Internist von Freyburg die diensthabende Neurologin an. Sie muss vor Ort sein, wenn der Patient eintrifft. Der Mediziner sieht ein winziges Zeitfenster, um sich etwas zu essen zu holen.

Im Laufschritt eilt er in die Kantine des Klinikums. Mit einem Teller Nudeln geht es genauso schnell zurück. Bis zu 16.000 Schritte macht von Freyburg an Rekordtagen. „Dann klingelt bis zu 50-mal pro Stunde mein Telefon", erzählt er, während er zum Aufenthaltsraum hastet. Das rund zehn Quadratmeter große Zimmer ist voll besetzt, der Chef quetscht sich zwischen seine Mitarbeiter. Von Freyburg redet, isst, - und geht nach vier Minuten wieder zu seinem Computer.

Absprachen sind das A und O

Grafischer, grauer Wecker, der 13:10 Uhr anzeigt

Alle zwei Minuten klingelt jetzt sein Telefon. Zwischendurch schreibt er den Aufnahmebefund, hat einen Blick auf den Eingang, ruft Kollegen Anweisungen zu. „Hast du den Verband gewechselt?", „Bringt ihn in die 3!", "Leg ihn an den Tropf!"

Der Chef der Nothilfe geht durch eine Schiebetür zwischen den Behandlungsräumen hin- und her. Das Telefon zwischen Kopf und Schulter eingeklemmt, kündigt er weitere stationäre Aufnahmen an. Dann eilt er zu seinem Schreibtisch, um die Fälle zu dokumentieren. Zuvor telefoniert er noch mit dem betreffenden Arzt auf der Station. Bevor ein Patient dorthin weitergeleitet wird, steht noch der Early Warning Score (EWS) an. Um ihn zu ermitteln, werden nochmals verschiedene Werte wie Atemfrequenz, Temperatur oder Herzfrequenz gemessen.

Alltag in der Notaufnahme

Ruhe bewahren auch bei Notfällen

Grafischer, grauer Wecker, der 17:30 Uhr anzeigt

„Alle in die 6!". Der Ruf des Oberarztes schallt durch die Notaufnahme. Zwei Ärzte und drei Pfleger eilen dorthin. Zwei Rettungsassistenten haben die Patientin so schnell wie möglich in die Nothilfe gebracht – gerade noch rechtzeitig. Frau V. atmet unkontrolliert, ihr Brustkorb hebt und senkt sich unnatürlich schnell. Die 53-Jährige hat zu viel CO2 im Körper – je schneller sie atmet, desto weniger effektiv kann das CO2 abgeatmet werden und verbleibt im Körper. Eine lebensbedrohende Situation.

Von Freyburg arbeitet ruhig und konzentriert: Er weist einen Arzt an, sich um die Tochter zu kümmern, die weinend im Wartezimmer sitzt. Dann ruft er einen Kollegen an, der wenige Minuten später mit einer mobilen Röntgenanlage eintrifft, der Röntgen-Mobilett. Pflegerin Cordelia hat der Patientin bereits den Pullover ausgezogen und streift ihr ein Hemdchen über. Sie legt Frau V. an den Tropf, dann wird ihr eine Beatmungsmaske auf Mund und Nase gesetzt. Von Freyburg zieht sich eine durchsichtige PE-Einmalschürze über. Der Kollege hat das Röntgenbild gemacht – es zeigt ein Lungenemphysem.

Ein anstrengender Tag neigt sich dem Ende

Grafischer, grauer Wecker, der 18:05 Uhr anzeigt

Allen ist sofort klar: Die Patientin muss intubiert werden, um einen sicheren Atemweg herzustellen, über den sie künstlich beatmet werden kann. Zunächst werden ihr über einen venösen Zugang Medikamente gespritzt, die sie in ein künstliches Koma versetzen. Cordelia reicht dem Arzt ein Laryngoskop.

Der beugt sich über die Patientin und führt ihr den Spatel des Instruments in den Rachenraum ein – so sichert er den Weg für den Beatmungstubus. Dann führt er einen Schlauch in den oberen Atemweg, fixiert ihn und schließt ihn an einen Beatmungsbeutel an. Danach muss Frau V. sofort auf die Intensivstation. „Das war knapp", sagt von Freyburg. Er atmet tief durch, bevor er sich zur Tochter der Patientin aufmacht.

Nach mehr als zehn Stunden Einsatz sitzt er wieder vor seinem Computer. „Alles in allem ein ruhiger Tag heute", sagt er mit Blick auf den Monitor: Von 8 bis 18 Uhr haben er und sein Team 42 Patienten behandelt, 25 mussten dableiben. Abends und nachts lösen ihn zwei Assistenzärzte ab.

Aber wenn morgen früh die Rettungswagen vorfahren, wird von Freyburg wieder zur Stelle sein.