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Erfahrungsbericht zum Williams-Beuren-Syndrom: Wenn dem Leben 28 Gene fehlen

Als Ella geboren wird, ahnt niemand, dass sie unter einem seltenen Gendefekt leidet. Das sogenannte Williams-Beuren-Syndrom führt dazu, dass sogar ihr Herz plötzlich stillsteht.

Untersuchung Ultraschall

Mehr als ein tapferes Mädchen

Hellblaues T-Shirt, bunte Leggins und ein kleiner Rucksack über den zarten Schultern – als die Tür aufgeht, strahlt die fünfjährige Ella ihre betreuende Ärztin im Krankenzimmer der Kinderstation fröhlich an. Auf den ersten Blick könnte das hier Klinikalltag sein und Ella einfach ein tapferes Mädchen, das heute – vielleicht nach einem harmlosen Eingriff – gemeinsam mit ihrer Mutter nach Hause darf.

Auf den zweiten Blick aber ragen Schläuche aus ihrem kleinen Rucksack bis zur Blutdruckmanschette am Oberarm. Sie hat noch einen frischen Zugang im Handgelenk und eine Sonde zeichnet sich unter ihrem T-Shirt ab. Bis sie entlassen werden kann, wird es noch dauern. Denn Ellas Geschichte ist eine andere, eine die ihr und ihrer Familie mehr abverlangt als Tapferkeit und in deren Verlauf das Leben des kleinen Mädchens schon mehrfach am seidenen Faden hing.

Ein fehlendes Stück Chromosom

Ellas Gesichtszüge sind schmal, sie wirkt ein wenig zu klein für eine Fünfjährige. Aber man muss genauer hinschauen, um zu erkennen, dass sie sich noch in anderen Dingen von Kindern ihres Alters unterscheidet. Ihre Nasenspitze ist rundlicher, die Lippen anders geformt. In ihrem zarten Körper schlägt zudem ein Herz, das geschwächt ist. Denn Ella fehlt seit ihrer Geburt ein Stück eines Chromosoms, und damit rund 28 Gene.

Dieser Defekt nennt sich Williams-Beuren-Syndrom (kurz WBS) nach seinen deutsch-neuseeländischen Entdeckern. Rein medizinisch gesehen ist WBS eine seltene Erkrankung, sie tritt nur bei etwa einer von 8000 Geburten auf. Für die betroffenen Familien aber ändert sie alles. Denn trotz zunehmender Bekanntheit vergehen oft Jahre, in denen schon schwere Symptome auftreten, aber niemand die Ursache erkennt. Auch, weil die Erkrankung so unterschiedliche Ausprägungen hat.

Denn eine der Folgen des „Stückverlusts“ am langen Arm des Chromosoms sieben ist, dass Betroffene ein verändertes, weniger funktionstüchtiges Elastin bilden können. „Eine Störung, die nahezu alle Körpervorgänge beeinflusst, denn Elastin gehört zu den strukturgebenden Eiweißen und sorgt unter anderem für die Dehnungsfähigkeit der Blutgefäße“, erklärt Dr. Elke Reutershahn, Oberärztin am Helios Klinikum Duisburg. Dieser Mangel kann bei Betroffenen unter anderem Herz- und Gefäßfehlbildungen sowie dauerhaften Bluthochdruck verursachen.

Neben den organischen Veränderungen weisen die Kinder zudem besondere optische Merkmale auf, so wie auch Ella. Dazu kommen einschränkende Entwicklungsdefizite und ein verändertes Sozialverhalten. Viele Betroffene sind gegenüber Mitmenschen extrem kontaktfreudig, neugierig und vertrauensselig. Dafür sind sie aber in Alltagssituationen, wie etwa beim Zähne putzen, übertrieben ängstlich oder reaktionsstark, was bei vielen Kindern mit WBS-Syndrom zu Zahn- und Kieferproblemen führt.

Helios St. Johannes Klinik

Leitende Oberärztin

Eine Störung, die nahezu alle Körpervorgänge beeinflusst, denn Elastin gehört zu den strukturgebenden Eiweißen und sorgt unter anderem für die Dehnungsfähigkeit der Blutgefäße.

Geburt per Notkaiserschnitt

Für Ellas Familie beginnen die Veränderungen schon in der Schwangerschaft, denn auf allen Ultraschallbildern bleibt das kleine Mädchen immer ein wenig hinter den Größenvorgaben zurück. Doch sie entwickelt sich konstant, also gibt es erstmal keinen Grund zu großer Sorge.

In der 30. Schwangerschaftswoche aber setzen plötzlich Wehen ein, Ella drängt auf die Welt, viel zu früh. Mit Glück schafft sie es noch bis zur 38. Woche, muss dann aber per Notkaiserschnitt geholt werden

Herzgeräusch bei der ärztlichen Grunduntersuchung (U2)

Schon direkt nach ihrer Geburt hat sie leichte Atemaussetzer, kann kaum trinken und nimmt nur sehr langsam zu. Sie kommt deshalb zur Überwachung in die Kinderklinik. Die Ärzt:innen gehen von einer Anpassungsstörung aufgrund der verzögerten Entwicklung in der Schwangerschaft aus.

Bei der U2 in der Klinik hört der Kinderarzt zwar ein Herzgeräusch, das ein Hinweis auf eine Herzerkrankung sein kann. Die Kontrolle soll aber aufgrund knapper Termine erst in sechs Monaten erfolgen. Niemand schöpft Verdacht, Ella wird entlassen.

Doch auch zuhause bleibt ihr Zustand unbeständig, von einer sorglosen Kennenlernzeit ist die Familie weit entfernt. „Ella schrie viel, war unruhig und konnte weiterhin nicht gut trinken“, erzählt Olga Gabelmann, Ellas Mutter. Sie ahnt immer mehr, dass hier etwas nicht stimmt. Als ihre Tochter mit einem Mal auffallend ruhiger und zugleich schwächer wird, drängt sie in der Klinik auf einen früheren Ultraschall.

Ella hat ein geschwächtes Herz

Die Aufnahmen sollen ihr recht geben. Ellas Herz ist bereits stark vergrößert, ihre Herzklappen funktionieren nicht richtig. Jetzt muss es schnell gehen, sie kommt zur Untersuchung ins Herzkatheterlabor, dort verschlechtert sich ihr Zustand unter der Vollnarkose rapide. Das wenige Monate alte Baby muss zweimal reanimiert werden. Danach liegt sie wochenlang beatmet auf der Intensivstation, auch hier versagt ihr Herz, doch die Ärzt:innen holen sie wieder zurück.

Das kleine Mädchen ist stark

Für ihre Familie ein Albtraum: „Diese Wochen waren so unfassbar grausam. Ich frage mich immer noch oft, wie wir das durchgestanden haben.“ Olga Gabelmanns Gesicht verdunkelt sich bei der Erinnerung. Doch kurz darauf strahlt die 37-Jährige wieder eine Kraft und Zuversicht aus, die beeindruckend ist. Sie kämpft für ihre kleine Tochter, jeden Tag. Und auch für ihr zweites Mädchen, Lena, die zwei Jahre ältere Schwester von Ella: „Geschwister von erkrankten Kindern nennt man oft Schattenkinder, weil sie unheimlich viel zurückstecken müssen. Wir versuchen, das so gut es geht, mit Exklusivzeit auszugleichen.“

Denn Ellas Kampf geht weiter, ihr stark geschwächtes Herz benötigt kurzfristig eine große Operation – erneut hängt ihr Leben am seidenen Faden. Doch sie kämpft und überlebt. Und auch eine mögliche Diagnose steht im Raum, denn nach einem Schnelltest hört die Familie zum ersten Mal den Begriff Williams-Beuren-Syndrom, kurz WBS. Einen richtigen Behandlungsplan gibt es allerdings nicht.

Ihre Mama recherchiert zu WBS

Ellas Zustand stabilisiert sich und Olga Gabelmann findet Zeit, um zu recherchieren. Dabei stößt sie in den sozialen Medien auf andere Betroffene und das WBS-Zentrum im Helios Klinikum Duisburg - St. Johannes Klinik, welches von Dr. Elke Reutershahn geleitet wird. Die erfahrene Oberärztin ist Vorsitzende des wissenschaftlichen Beirats im WBS-Bundesverband und Expertin bei der Behandlung des Gendefektes. Die Familie macht schließlich einen Termin in Duisburg und fährt aus der Pfalz an den Niederrhein.

„Ich war so erleichtert, als wir die ersten Gespräche geführt haben. Plötzlich verstand jemand all unsere Sorgen und die Besonderheiten rund um Ella – ich musste nichts erklären oder rechtfertigen“, erinnert sich Olga Gabelmann, die Krankenschwester ist. Mit Dr. Elke Reutershahn und ihrem Team gehen sie alle Herausforderungen durch ¬– etwa Ellas Probleme bei der Nahrungsaufnahme, die sie von Beginn an begleiten und sich durch einen lebensbedrohlichen Riss ihrer Speiseröhre im Alter von zwei Jahren noch verschlimmern.

Bis heute löst Essen bei ihr einen Brechreiz aus und sie muss über eine Sonde künstlich ernährt werden. Dr. Reutershahn entwickelt einen Therapieplan für Ella, gibt der Familie zudem hilfreiche Tipps und ist über die Jahre bei Sorgen immer ansprechbar, auch als die Pandemie beginnt, denn eine Corona-Infektion kann für WBS-Patient:innen schnell lebensgefährlich werden.

Vertrauen in das WBS-Zentrum

Bereits dreimal war Ella für Behandlungen oder Operationen in Duisburg, alles wird dann aufeinander abgestimmt, damit es für sie möglichst stressfrei und schonend abläuft. Denn auch eine Narkose ist für das Mädchen ein enormes Risiko. Sie erholt sich von Eingriffen am Bauch und an den Zähnen, die parallel stattfanden, um Ella von mittlerweile chronischen Schmerzen zu befreien. Kinder- und Kieferchirurg:innen arbeiteten dafür Hand in Hand. Auch das ist eine Besonderheit des Zentrums. Eingebettet in das Leistungsspektrum eines Maximalversorgers bietet die Abteilung WBS-Betroffenen und ihren Familien die gesamte Bandbreite der medizinischen Versorgung – von der internistischen über die operative Therapie bis hin zur Entwicklungsdiagnostik und -förderung.

Ist WBS heilbar?

Heilbar ist das Williams-Beuren-Syndrom bislang nicht. Doch viele Patient:innen können als Erwachsene zwar ein betreutes, aber zumindest in einigen Dingen selbstständiges Leben führen. Ob das für Ella jemals möglich sein wird, kann keiner der Beteiligten bisher absehen.

Ihre Familie ist glücklich über jeden neuen Tag mit ihr: „Ella hat schon so viel durchgemacht und geht trotzdem unglaublich fröhlich durchs Leben. Daran nehmen wir uns immer wieder ein Beispiel und genießen auch alltägliche Momente umso intensiver.“

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