Experimentelle Forschung gegen "unheilbare" Krankheiten

Herr Dr. Prokop, wie viele onkologische Neuerkrankungen gibt es pro Jahr bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland?
Rund 2100. Das ist sehr wenig, wenn man bedenkt, dass Krebs bei Erwachsenen zu den zweithäufigsten Todesursachen zählt. Das ist natürlich an sich schon erfreulich, bietet allerdings noch einen weiteren großen Vorteil.

Der da wäre?
Die wenigen Fälle machen es leichter, diese in bundesweiten Therapieoptimierungs-Studien zu behandeln. So können sich Eltern sicher sein, dass ihr Kind in München, Berlin, Köln oder eben Schwerin immer mit der aktuell besten Therapie behandelt wird. Bei den Erwachsenen erschweren viele unterschiedliche parallel im Lande angebotene aber nicht gegen einander getestete Therapien einen Überblick. Mit ein Grund dafür, dass die Erfolgsrate von onkologischen Erkrankungen bei Kindern bei rund 78 Prozent viel höher als bei den Erwachsenen liegt.

Gibt es dafür noch andere Gründe?
Kinder sind seltener multimorbid, haben also nicht noch weitere Erkrankungen, die im Laufe des Lebens dazukommen. Das macht die Behandlung oft einfacher.

Wenn überall die gleichen Methoden angewandt werden, gibt es dann trotzdem eine individuelle Therapie bei Kindern mit onkologischen Erkrankungen?
Ja, das ist mir für mein Team auch sehr wichtig. Kinder sind keine kleinen Erwachsenen, Sie haben eigene Bedürfnisse, die für ihre Entwicklung wichtig sind. Deshalb etablieren wir in unserer Abteilung eine individuelle Sport,- Kunst- und Musiktherapie, damit die Kinder weniger Nebenwirkungen während der Kräfte zehrenden Behandlung erleiden. Es ist wichtig, immer wieder über den Tellerrand hinaus zu denken. Das hat uns schon in mancher ausweglosen Situation geholfen. So konnten wir in unserer Arbeitsgruppe „Experimentelle Therapie“ in der Vergangenheit für einige bisher unheilbare Kinder und Jugendliche erfolgreich individuelle Therapien entwickeln. Diese Patienten leben bisher ohne Rückfallerkrankung über 10 Jahre in Gesundheit.

Außerdem suchen wir mit unserer Forschergruppe nach neuen besseren Wirkstoffen gegen Krebs und Leukämie. Dabei haben wir auch viele neue Wirkstoff-Klassen entdeckt, die verschiedene Metalle enthalten. Bis vor zehn, fünfzehn Jahren etwa waren zur Herstellung von Medikamenten nur die Naturstoffe auf dem Schirm der Forscher. Wir haben uns dann gefragt, warum der viel größere Anteil der Metalle im Periodensystem der Elemente überhaupt nicht berücksichtigt wird. Schließlich benötigt der Körper diese auch an anderer Stelle.

Können Sie ein Beispiel nennen?
Gerne. Nehmen wir das Hämoglobin, das dürfte den meisten ein Begriff sein. Ein Proteinkomplex, der in den roten Blutkörperchen Sauerstoff bindet und diesen die rote Farbe verleiht. Dafür wird Eisen benötigt. Denken Sie nur an Popeye, der in Zeichentrickfilmen Unmengen Spinat aß, damit Kinder diesen auch mögen. Zugegeben, damals hat man sich verrechnet bei der Menge im Spinat, aber Eisen ist trotzdem drin enthalten.

Und diese Metalle helfen bei der Herstellung von Medikamenten?
Ja. Wir gehörten damals mit zu den Ersten, die auf diesem Gebiet forschten. Mittlerweile haben wir viele neuartige Wirkstoffe gegen Krebs und Leukämie gefunden, die Tumorzellen mit Resistenzen gegen herkömmliche Medikamente überwinden können.

Sie haben für die Forschung auch ihr eigenes Labor inklusive Team mitgebracht, oder?
Ja, das war mir wichtig. PD Dr. Claudius Werner, der Chefarzt der Kinderlinik, sowie der Klinikgeschäftsführer Daniel Dellmann, wollten unseren Forschungsschwerpunkt in der Kinderklinik der Helios Kliniken Schwerin integrieren. Innerhalb einer Woche wurden die Laborräume gebaut! Dies ist ein gutes Zeichen dafür, wie alle Beteiligten hinter einer exzellenten medizinischen Versorgung unserer Patienten stehen. So können wir hier vor Ort die schwerstkranken Patienten noch individueller und erfolgreicher behandeln.

Um auf die Patienten in einer kinderonkologischen Abteilung behandeln zu können, benötigen Sie deren Vertrauen.
Unbedingt! Deshalb sage ich immer, dass wir bei uns Menschen und keine Krankheiten behandeln. Dazu gehört aber neben den Kindern und Jugendlichen auch immer die Familie. Hier bei uns arbeiten alle in einem Team zusammen.

Trotzdem müssen Sie den Patienten und der Familie manchmal sagen, dass es keine Lösung mehr gibt.
Ja, auch das gehört dazu. Und es ist natürlich immer wieder schwierig, das machen zu müssen. Jemanden loszulassen, der ein langes und glückliches Leben hatte, fällt leichter als jemanden gehen zu sehen, der gerade erst die Welt entdecken würde. Auch hier stehen wir noch lange mit den Familien in Kontakt. Wir sind zwar heute in der Kinderonkologie sehr erfolgreich, wenn man bedenkt, dass zu der Zeit wo ich ein kleines Kind war, alle onkologisch erkrankten Kinder und Jugendliche gestorben sind, weil es keine Therapien gab. Aber wir werden hierdurch für unsere weitere Forschung angetrieben mit dem Ziel, möglichst alle unsere Patienten in der Zukunft heilen zu wollen.

Gibt es Fälle, die Ihnen besonders im Gedächtnis geblieben sind?
Da wir unsere Patienten über lange Zeit behandeln, vergessen wir sie nicht. Weil wir uns ständig um sie sorgen, sind sie schließlich ein Teil unseres eigenen Lebens. Zum Beispiel ein Jugendlicher mit einem Tumor so groß wie ein Handball in der Brust. Eine sehr seltene Krebsart. Ich saß mit ihm und der Familie zusammen und musste ihm und seinen Eltern mitteilen, dass noch keiner seine Erkrankung bisher überlebt hat.: Er sah mich an und sagte:  Das ist gar nicht schlimm. Dann werde ich der erste sein. Später fragte ich seine Eltern, ob sie meine Botschaft verstanden hätten. Es gäbe niemanden, der diesen Krebs überlebt hätte. Sie sagten mir: Wenn wir keine Therapie anbieten, wechseln sie die Klinik.

War er der erste, der diesen Krebs überlebt hat?
Ja. Wir haben dann tatsächlich in unserer Forschergruppe eine erfolgreiche Therapie entwickeln können, so dass der Junge als erster weltweit diese Erkrankung überlebt hat. Er ist jetzt seit über 7 Jahren gesund und bereits ein glücklicher junger Mann.
Wichtig ist uns, zum einen unsere Patienten und deren Familie ernst zu nehmen und zum anderen nicht den Kopf in den Sand zu stecken, wenn es schwierig wird. Wir leben hier bei uns einen olympischen Geist. „Dabei sein ist alles“.