Sehr geehrte Frau Prof. Stengler, die täglich steigende Zahl Infizierter, eine dramatische Entwicklung der Sterberate, der heftige Einbruch der Wirtschaft. Seit Tagen beherrscht kein anders Thema unsere Nachrichten mehr als Corona und seine Folgen. Wie viel davon hält der Mensch noch aus?
Menschen sind durchaus in der Lage, Extremsituationen auszuhalten. Auch über einen längeren Zeitraum. Trennungen, Kriegszeiten, selbst körperliche Gewalt. Die menschliche Psyche kann das schaffen. Und trotzdem stimmt es: Wir leben aktuell in einer verrückten Zeit. Es gibt ein breites Angebot an guten, wichtigen Informationen, denen eine Vielzahl an Unwissen gegenüber steht. Wodurch folgerichtig wieder neue Fragen entstehen, auf die die meisten eine klare, eindeutige Antwort wünschen.
Und wenn man die nicht bekommt, reagiert man überzogen?
Die gegenwärtige Krise ist eine Zeit der negativen Superlative. Wenn selbst die Bundeskanzlerin sagt, dass es eine solche Situation seit 1945 nicht mehr gegeben hat, dann verdeutlicht das die Dramatik. Der Einzelne ist damit mitunter überfordert. Das beginnt schon damit, die Ängste zu sortieren, sie zu kanalisieren.
Wen trifft das besonders hart?
In erster Linie diejenigen, die sich ohnehin abgehängt fühlen, die zur Gruppe der Ausgegrenzten gehören. Alleingelassene Menschen etwa, Alleinerziehende, oder jene, die im sozialen System abgehängt sind oder die jetzt immer wieder genannten Risikogruppen, also Ältere und Menschen mit einer Vorerkrankung. Sie alle sind in diesen Tagen besonders auf den Erhalt sozialer Kontakte angewiesen.
Wie ist es bei Menschen, die bereits mit psychischen Problemen zu kämpfen haben?
Psychisch Kranke, sofern sie gut vernetzt sind, können solche Krisen durchaus gut bewältigen. Wenn sie aber, wie schon erwähnt, sozial isoliert sind und sich dann in ihrer Gedankenwelt mit all den Problemen verstricken, können sich deren ohnehin schon bestehenden Ängste natürlich potenzieren.
Immer wieder wird betont, dass man die Kontakte zu anderen gänzlich unterlassen soll. Wie sollten wir mit dieser Isolation umgehen?
Wenn wir das Corona-Virus in den Griff bekommen und besiegen wollen, haben wir keine andere Wahl. Aber unser Zeitalter bietet dennoch eine Vielzahl an Möglichkeiten, um in Verbindung zu bleiben. Das Telefonnetz funktioniert, die Post auch. Gruppen, die sich sonst regelmäßig getroffen haben, können das durchaus weiter tun – nur eben auf virtueller Ebene. Gemeinsames Yoga beim Skypen, Gesprächsrunden mit Freunden im Chat oder das zeitgleiche Ansehen desselben Films – Möglichkeiten, sich gegenseitig zu stützen gibt es viele.
Man gewinnt den Eindruck, dass Menschen in Krisenzeiten wieder näher zueinander finden?
Das stimmt. Extremsituationen fördern die Solidarität. Die vergangenen Jahre waren eine Zeit der Individualisierung. Jetzt aber spüren die Menschen wieder, was Nachbarschaftshilfe heißt. Sich um den Nächsten zu kümmern, seine Sorgen ernst zu nehmen, rückt vermehrt in das Bewusstsein zurück. Und wir erkennen, was unsere Gesellschaft ausmacht, was sie stärkt: Ein stabiles Gesundheitssystem, funktionierende Dienstleistungen, ein faires Miteinander.