Inniger als Küssen

Inniger als Küssen

Eine innige Umarmung sagt manchmal mehr als tausend Worte. Kein Wunder also, dass wir sie im zweiten Jahr der Corona-Pandemie so sehr vermissen. Drückt sie doch Liebe, Freude, Mitgefühl, Trost, Wärme und noch vieles mehr aus, was uns Menschen ausmacht, was wir zum Leben brauchen. Gerade deshalb ist der Feiertag der Umarmung, welcher alljährlich am 29. Juni stattfindet, in diesem Jahr etwas ganz Besonderes.

Wenn eine internationale Jury alljährlich das Pressefoto des Jahres kürt, dann spielen bei der Auswahl der Bilder aktuelle Geschehnisse eine entscheidende Rolle. Daher verwundert es nicht, dass sich das Gremium 2021 für ein Motiv des dänischen Fotografen Mads Nissen entschied. Dieser hatte in einem Pflegeheim in São Paulo (Brasilien) eine berührende Szene aufgenommen, bei der sich zwei Frauen coronakonform umarmen. Lediglich getrennt durch eine dünne Folie, genießen sie die Innigkeit und wissen sie zu schätzen.

Distanz auf Zeit

Einen kurzen Moment lang war alles möglich. Kein Händeschütteln, keine Umarmung, Distanz auf zwei Meter Abstand. Corona forderte seinen Tribut auf vielfältige Weise. Diesen Zwischenraum zu wahren, gelingt sozialen Wesen, wie der Mensch es ist, aber nur kurzzeitig. Dauerhaft darf dieser Zustand nicht werden.

Ein vollständiger Verzicht auf Berührung ist unmöglich,

Dr. Andries Korebrits, Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie am Helios Park-Klinikum Leipzig.

Wie wichtig körperliche Nähe sei, werde vielfach unterschätzt. Aussagen von Medizinern, dass man sich an das Maske-Tragen und Berührung-Vermeiden gewöhnen müsse, erachtet Dr. Korebrits deshalb als ein „verheerendes Signal“.

Deutsche mögen es

Gerade im deutschen Kulturraum schätze und praktiziere man das innige Umarmen, so der gebürtige Niederländer. „Franzosen und Holländer geben sich zur Begrüßung eher ein Küsschen auf die Wange, wobei die Holländer die Umarmungen der Deutschen durchaus toll finden“, teilt er das Empfinden seiner Landsleute mit. Aber auch in anderen Kulturkreisen hat das innige Umfassen des Oberkörpers anderer Menschen durchaus eine lange Tradition. „Eine Umarmung ist intensiver als ein Kuss“, sagt die deutsche Aphoristikerin Janine Weger. Nicht zuletzt deshalb, weil dieses Festhalten eine klare Botschaft vermittelt: Ich stehe zu dir, bin bei dir. Auf mich kannst du dich verlassen.

Verlust an Lebensqualität

„Wenn wir darauf auf Dauer verzichten“, betont Dr. Korebrits, „könnte das weitreichende, bislang noch nicht abschätzbare Folgen haben“. Im Blick hat er dabei vor allem Kleinkinder, die ohne diese körperliche Nähe bislang erfahren zu dürfen, unter falschen Vorrausetzungen aufwachsen.

Überall nur Menschen mit Masken, keine Berührungen, permanente Ängste der Ansteckung. So etwas kann nicht spurlos bleiben,

mahnt Dr. Korebrits.

Ein Verlust oder Verzicht körperlicher Nähe sei gleichzusetzen mit einer deutlichen Einschränkung der Lebensqualität und hätte langfristig psychologische Folgen, so Korebrits weiter. Schließlich, formulierte es der griechisch-deutsche Schriftsteller Johannes Gaitanides, ließe sich die Welt nur in der Umarmung erfahren.

Diese Art des Berührens dürfe nicht verloren gehen. Daher sei es wichtig, das Thema schnellstmöglich wieder auf die Agenda zu holen, rät Dr. Korebrits. Selbst die kleine Schwester der Umarmung, den Händedruck. „Hier geht es um mehr als das sich gegenseitig spüren. Das Händereichen symbolisiert einen Friedensakt“, verdeutlicht er.

Traut euch!

Begrüßungen bei gegenseitiger Berührung mit dem Ellenbogen seien während der Hochphase der Pandemie zwar richtig gewesen, doch langfristig wirken sie distanziert und unpersönlich. „Nähe ist im Verlauf von Corona leider ein Fremdwort geworden. Wenn wir heute vor Umarmungen Angst haben, setzt das im Kopf falsche Kopplungen frei. Wollen wir das?“, fragt Andries Korebrits und bringt es noch einmal auf den Punkt. „Wir müssen endlich wieder anfangen, uns zu umarmen!“ Zumindest da, wo dies möglich ist und die größte Nähe erzeugt – innerhalb der eigenen Familie. Oma, Opa, Kinder, Enkel, sie alle sehnen sich nach diesem Augenblick. Gerade jetzt, wo immer mehr Menschen geimpft sind, gilt es zu rufen: Traut euch! Umarmt euch!

Fazit

Begrüßungen mit der Faust oder dem Ellenbogen sind aktuell notwendig, entsprechen aber nicht den üblichen Gepflogenheiten hierzulande. Körperliche Nähe ist uns Menschen ein natürliches Grundbedürfnis.