Bei Nichtgebrauch droht der Verlust

Bei Nichtgebrauch droht der Verlust

Wer sich körperlich fit hält, hat in jedem Lebensalter mehr Spaß und Freude am Leben. Doch was den Muskeln in Rücken, Bauch, Bein und Arm dienlich ist, kann auch dem Hirn nicht schaden. Was genau die beste Art des Gehirnjoggens ist, beantwortet im folgenden Elmar Paasche, vom Psychologischer Dienst der Klinik für Akutgeriatrie und Frührehabilitation des Helios Park-Klinikums Leipzig.

Herr Paasche, ist der Vergleich, dass unser Gehirn einem Muskel ähnelt, der ohne Training an Leistungskraft verliert, gerechtfertigt?

Zunächst werden für das Gehirn verschiedene Vergleiche bzw. Metaphern verwendet. Neben dem Vergleich mit einem Muskel, der regelmäßig trainiert werden müsse, existieren noch weitere wie zum Beispiel der Vergleich mit einer Rechenmaschine oder einem Netzwerk. Diese bildhaften Vergleiche sollen helfen, die Komplexität und die Arbeitsweise des Gehirns besser zu veranschaulichen bzw. zu verstehen. Sie sind jedoch in ihrer Aussagekraft begrenzt. Der Vergleich des Gehirns mit einem Muskel passt also insofern, dass die Leistungsfähigkeit beider Organe durch ein gezieltes Training nachweislich vorteilhaft beeinflusst werden kann.

Wo genau liegt im Gehirn das Zentrum des Erinnerns bzw. des Abspeicherns von Informationen des Allgemeinwissens?

Die Großhirnrinde, auch Cortex genannt, ist der größte Teil unseres Gehirns und bildet die biologische Basis unseres Gedächtnisses. Sie ist zuständig für die Speicherung und den Abruf von Informationen.

Elmar Paasche, Psychologischer Dienst der Klinik für Akutgeriatrie und Frührehabilitation, Helios Park-Klinikums Leipzig.

Ein Zentrum oder ein Gedächtnis, das für alles zuständig ist, besteht in der Form nicht. Vielmehr gibt es unterschiedliche Gedächtnisfunktionen, die in verschiedenen Arealen des Groß- und Kleinhirns verortet sind. Ein wissenschaftlich akzeptiertes Modell unterscheidet etwa in sensorische Gedächtnisse (Aufmerksamkeit), Kurzzeitgedächtnisse (Arbeitsgedächtnisse) und Langzeitgedächtnisse. Langzeitgedächtnisse speichern alles, was wir uns merken wollen und müssen dauerhaft in mindestens zweierlei Formen. Erstens in Form einer Beschreibung in Worten und zweitens, in Form eines Tagebucheintrages, der wiedergibt, wann und wo wir an diese Information gekommen sind (episodisches Langzeitgedächtnis). Ohne diese Einträge würden wir nur per Zufall, die gesuchten Information wiederfinden.

Allgemeinwissen wie Schul- und Weltkenntnisse, die sich in Worte fassen lassen, werden im semantischen Langzeitgedächtnis abgespeichert. Dessen Areal befindet sich zentral in der Großhirnrinde, also in der Schädelmitte. Alle Gedächtnisbereiche sind natürlich miteinander verbunden und “kommunizieren” miteinander.

Was passiert im Gehirn, wenn man ein Kreuzworträtsel oder ein Sudoku löst?

Das Langzeit- oder Dauergedächtnis kann man sich als einen beinah unendlich großen Speicher vorstellen, vergleichsweise mit einer Bibliothek, welche über verschiedene Abteilungen mit Regalen verfügt. Die Größe der Bibliothek variiert interindividuell je nach Bildungsgrad. Mithilfe unseres episodischen Tagebucheintrages (Registereintrag) finden wir meist die Informationen im Regal wieder. Werden jedoch Informationen über viele Jahre nicht mehr aus dem Regal genommen, dann stauben sie ein und verblassen allmählich. Der Ablageort und die Information werden vergessen.

Beim Vorgang des Kreuzworträtsels greift man vereinfacht gesagt mithilfe der sensorischen und Arbeitsgedächtnisse auf die Informationen in den Regalen und versucht quasi den Vorgang des Einstaubens und Vergessens zu verringern, indem man die einst hinterlegten Informationen bzw. Begriffe wieder hervorholt.

Bei dem aus Japan stammenden Sudoku wird im Vergleich zum Kreuzworträtsel kein erlerntes Wissen abgefragt. Sudoku, was in etwa  „Zahl, die allein steht“ bedeutet, ist ein Logikrätsel, dass vor allem Konzentration und logisches Denken anregt. Man muss dabei jedes Mal aufs Neue logisch kombinieren, was unser Gehirn stimuliert.

Ist es empfehlenswert, derlei Dinge regelmäßig zu tun?

Es empfiehlt sich generell geistig, aber auch körperlich aktiv zu sein, denn wer dies tut, bleibt länger jung und selbstständig. Wer bereits in jungen Jahren ganzheitlich aktiv ist und das ein Leben lang auch bleibt, hat später im Alter ein höheres Ausgangsniveau, wenn körperliche und geistige Funktionen allmählich nachlassen. Aber auch ein späterer Beginn verbessert signifikant die Alltagskompetenz. Nicht zu vergessen ist dabei: Altern ist keine “Krankheit”, die es zu behandeln gilt, sondern etwas völlig Normales im menschlichen Lebenslauf. Man kann durch sein eigenes Handeln jedoch Einfluss auf das eigene Altern nehmen.

2017 haben Wissenschaftler der britischen Universität Exeter in einer Online-Untersuchung festgestellt, dass ältere Menschen, die häufiger Kreuzworträtsel lösen, ein besseres Kurzzeitgedächtnis und Grammatikkenntnisse hatten.

Elmar Paasche

Gilt das nur für Senioren oder profitieren alle Altersgruppen von geistigem Training?

Alle Altersgruppen sind darin eingeschlossen. Bereits ab dem 30. Lebensjahr lässt zum Beispiel die Geschwindigkeit unseres Denkens nach. Es gibt seit einigen Jahren Trainingsprogramme die empfehlen ab dem 50. Lebensjahr ein gezieltes Gedächtnis- und Psychomotoriktraining. Senioren im höheren Lebensalter wird ein tägliches Gedächtnis- und Psychomotoriktraining von etwa 30 Minuten als Demenzprophylaxe angeraten. Während Sport vor allem Kraft und Ausdauer trainiert, liegen die Schwerpunkte beim Psychomotoriktraining stärker auf Wahrnehmung, Gleichgewicht, Beweglichkeit und Bewegungskoordination. Ein Training in diesen Bereichen benötigen wir zum Erhalt der Selbstständigkeit im Alter, um beispielsweise Stürzen vorzubeugen. Allgemein gilt, dass Bewegungsmangel den altersbedingten Abbauprozess verstärkt. Zahlreiche wissenschaftliche Studien belegen, dass wer körperlich und geistig rastet, schnell rostet. Diese wissenschaftlich überprüfte Lebensweisheit trifft für die gesamte Lebensspanne zu.

Noch einmal zur älteren Generationen. Warum ist Gehirntraining gerade für sie wichtig?

Mit Beginn der nachberuflichen Lebensphase fallen bedeutende soziale Taktgeber für Aktivitäten und Anforderungsbereiche zumeist weg. Die tägliche körperliche und geistige Beanspruchung nimmt ab oder muss eigenständig wiederhergestellt werden. Das fällt den meisten Menschen schwer. Hinsichtlich der Hirnleistungsfunktionen findet man mit zunehmenden Lebensalter nur noch zwei unabhängige Dimensionen vor. Diese beiden Hirnleistungen werden in “kristallin” und “flüssig” unterschieden. Kristalline Hirnleistungen sind stark übungs- und bildungsabhängig wie Allgemeinwissen, Rechenfähigkeit oder Gedichte lernen. Derlei Aufgaben müssen nicht unter Zeitdruck erbracht werden. Zu den kristallinen Hirnaktivitäten zählt auch das Lösen von Kreuzworträtsel. Kristalline Leistungen können letztlich sogar bis ins höchste Alter nachweislich durch regelmäßig Beübung gesteigert werden.

Für die Alltagskompetenz und Selbstständigkeit wiederum sind vor allem flüssige (geschwindigkeitsabhängige) Funktionen von Bedeutung. Mit zunehmendem Alter geht nämlich vieles langsamer, man braucht für tägliche Arbeiten mehr Zeit. Viele Informationen können nicht mehr gleichzeitig angemessen schnell verarbeitet werden. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Teilnahme älterer Menschen am Straßenverkehr.

Die fluiden (tempoabhängigen) Leistungen müssen hingegen gezielt und regelmäßig trainiert werden, auch wenn der “innere Schweinehund” das Sofa gerade lieber hätte. Für diesen Leistungs- bzw. Kompetenzbereich gibt es seit einiger Zeit ebenfalls verschiedene Trainingsmöglichkeiten für Ältere.

Ist der Schwierigkeitsgrad von Rätselaufgaben bedeutsam oder zählen allein der Wille und seine Umsetzung?

Beides zählt! Einerseits muss die “längste Freizeit des Lebens” täglich eigenständig mit Inhalt abwechslungsreich gefüllt und strukturiert werden und das sieben Tage in der Woche. Nicht nur am Wochenende wie in jüngeren Jahren. Andererseits strebt unser Gehirn nach Routinehandlungen, da es mit dem bewussten Durchdenken aller Entscheidungen überfordert wäre. Routinen erleichtern das Leben und ermöglichen die Bereitstellung von Energie für stressige Situationen. Insofern sollten wir gezielt neue, ungewohnte Aufgaben regelmäßig aufsuchen, um uns geistig und körperlich herauszufordern und den Schwierigkeitsgrad schrittweise steigern. Dafür braucht es Eigenverantwortung, Lebensbejahung, Disziplin und nicht zuletzt Willenskraft. Im Idealfall liegt der Schwierigkeitsgrad ein bisschen über der eigenen Leistungsgrenze. Die Freude über den Erfolg ist dann umso größer. Ein Sprichwort besagt, sobald man in einer Sache “Meister” geworden ist, sollte man als “Schüler” mit einer neuen Sache beginnen. Im höheren Alter ist dann insbesondere der Erhalt von Fähigkeiten und Fertigkeiten von Bedeutung, und zwar solange wie möglich.

Was passiert denen, die es vermeiden, ihr Hirn regelmäßig herauszufordern?

Der Nichtgebrauch der Hirnfunktionen kann zu defizitären Veränderungen führen. Wenn man sein Gehirn nicht regelmäßig trainiert, werden Nervenverbindungen schwächer, die geistige Leistungsfähigkeit lässt nach. Synapsenverbindungen gehen zurück. Nervenzellen sterben ab. Ein englisches Sprichwort sagt: “Gebrauche es oder verliere es!” Mit dem obigen Bild der Bibliothek gesprochen: Informationen verstauben in den Regalen und gehen dann eines Tages verloren.

Elmar Paasche

Zu Bedenken ist dabei auch, das Rätseln als einziges Gedächtnistraining, wo nur einseitig gelerntes Wissen abgefragt wird, weniger zum Erhalt der geistigen Leistungsfähigkeit beiträgt. Diesbezüglich ist letztlich eine größere Bandbreite an Aktivitäten notwendig.

Welche Alternativen gibt es?

Um geistig fit zu bleiben, sind neben dem klassischen Kreuzworträtsel und anderen Ratearten weitere geistige Aktivitäten notwendig und sinnvoll. Neben Memo-Spielen und Puzzles sind Würfelspiele, Kartenspiele oder Schach mit Freunden ebenfalls herausfordernd und geistig anregend. Ganz wesentlich ist auch das Lesen von Büchern, Zeitschriften und Tageszeitungen. Auch das Erlernen einer Fremdsprache fordert und fördert bis ins hohe Alter den Geist. Singen, Musizieren und insbesondere das Tanzen steigern ebenfalls die körperliche und geistige Fitness. Radfahren, Schwimmen, Wandern, Qi Gong, Yoga, zügiges Spazieren gehen oder Nordic Walking unterstützen gleichsam nachhaltig Körper und Geist und das nicht nur im Alter. Die ausgewählten Beschäftigungen und Aktivitäten sollten abwechslungsreich, individuell angepasst und Spaß machen, denn die Lebensfreude darf bei aller Aktivität nicht zu kurz kommen.